Die frühere Frage: «Ist dieses Verhalten ererbt oder erworben?» gilt heute als Scheinproblem oder als falsch gestellt. Sinnvoller ist es zu fragen: «Was an diesem Verhalten ist ererbt, was erworben?» Dabei kann man davon ausgehen, daß alle Verhaltensweisen eine angeborene Grundlage haben, denn alle Lernfähigkeiten müssen durch die Erbanlagen vorgegeben werden. Andererseits sind bei höheren Säugetieren, vor allem aber beim Menschen, praktisch alle Verhaltensweisen durch Lernen zu verändern. Das heißt, daß die Feststellung einer erblichen Neigung (Disposition) zu einer Krankheit wie Depressionen oder Schizophrenie keineswegs besagt, daß durch LernVorgänge nichts an diesen Krankheiten geändert werden kann. Das gleiche gilt für den Nachweis einer erblich bedingten geistigen Schädigung, zum Beispiel beim Mongolismus. Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten, einen Organismus durch Lernen umzugestalten, nicht unbegrenzt. Gerade beim Menschen scheint die Lernfähigkeit oft größer als die Lernsicherheit. Er kann Verhaltensweisen erlernen, die sich mit seinem Überleben nur schlecht vertragen, wie zum Beispiel ein Maß an Sexualunterdrückung, das seiner seelischen Gesundheit höchst abträglich ist, oder einen Leistungszwang (der auf der verinnerlichten elterlichen Botschaft beruht: «Du darfst leben, wenn du immer arbeitest»), der auf die Dauer seine Organe überfordert. Hier werden die durch unsere ererbten Verbindungen zu den höheren Säugetieren gesteckten Grenzen der biologischen Anpassungsfähigkeit mit Hilfe des Lernens offenbar überschritten.
Siehe Anlage-Umwelt-Problem, Verhaltensgenetik, Zwillingsforschung
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