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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Verhaltensgenetik

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms





Begriffe und Gegenstand

Die Verhaltensgenetik wendet Methoden und Erkenntnisse der Genetik auf die Erforschung von Verhalten an. Sie steht somit am Schnittpunkt von Biologie und Verhaltenswissenschaften. Man unterscheidet zwischen quantitativ-genetischen Ansätzen, welche die Bedeutung von genetischen und Umweltfaktoren für individuelle Unterschiede in psychischen Merkmalen untersuchen, und molekulargenetischen Ansätzen. Letztere versuchen, spezifische Gene zu identifizieren, die Verhaltensunterschiede beeinflussen. Viele Gene treten am gleichen Genlocus in Form alternativer Allele auf, welche unterschiedliche Merkmalsausprägungen fördern. Jedes Individuum besitzt an jedem Genlocus zwei Allele, von denen eines von der Mutter und eines vom Vater stammt. Die quantitative Genetik erforscht die Quellen individueller Unterschiede und zerlegt die beobachtbare (phänotypische) Varianz zwischen Individuen in Komponenten. Dabei wird in der Regel angenommen, diese Unterschiede würden durch zahlreiche Gene beeinflußt (sogenannte Polygenie). Polygene Erbgänge erklären die Verteilung solcher Merkmale am besten, welche vielfach abgestuft sind und einer Normalverteilung folgen. Bei der genetischen Varianz wird unterschieden zwischen: a) additiver genetischer Varianz, d.h. der Summe der Wirkungen einzelner Allele, b) Gendominanz, d.h. Interaktionen der beiden Allele am gleichen Genlocus, c) Epistase, d.h. Interaktionen von Allelen an verschiedenen Genloci und d) den Effekten selektiver Partnerwahl. Soweit nämlich erbliche Merkmale von Eltern positiv miteinander korrelieren, führt dies zu einer Erhöhung der genetischen Varianz sowie einer Erhöhung der genetischen Ähnlichkeit von Verwandten. Der Umweltvarianz werden sämtliche nichtgenetischen Quellen individueller Unterschiede zugerechnet, also zum Beispiel auch die Effekte von Ernährung oder Unfällen. Dabei wird zwischen geteilter und nichtgeteilter Umwelt unterschieden. Als geteilte Umwelt bezeichnet man die Wirkung all derjenigen nichtgenetischen Faktoren, welche zur Ähnlichkeit von gemeinsam aufgewachsenen Personen (insbesondere Geschwistern) beitragen. Als nichtgeteilte Umwelt wird die Wirkung aller Faktoren nichtgenetischer Art bezeichnet, welche zur Unterschiedlichkeit von Personen beitragen.



Anlage-Umwelt-Interaktion/-Kovariation

Von den Haupteffekten der genetischen und Umwelteinflüsse werden Anlage-Umwelt-Interaktion und Anlage-Umwelt-Kovariation unterschieden. Das Konzept der Anlage-Umwelt-Interaktion beinhaltet, daß Umweltfaktoren je nach Genotyp unterschiedliche Wirkungen entfalten. Zum Beispiel postulieren Diathese-Streß-Modelle psychischer Störungen, daß der Umweltfaktor Streß nur dann zur Manifestation der jeweiligen Störung führt, wenn eine einschlägige genetisch bedingte Anfälligkeit vorliegt. Anlage-Umwelt-Kovariation bezeichnet den Umstand, daß sich Genotypen nicht zufällig auf verschiedene Umwelten verteilen. Man unterscheidet zwischen passiver, reaktiver und aktiver Anlage-Umwelt-Kovariation. Passive Anlage-Umwelt-Kovariation resultiert daraus, daß Eltern sowohl Gene an ihre Nachkommen vererben als auch deren Familienumwelt prägen. Reaktive Anlage-Umwelt-Kovariation liegt dann vor, wenn die Umwelt auf genetisch beeinflußte Merkmale von Personen reagiert und dies die weitere Entwicklung der Personen beeinflußt. Von aktiver Anlage-Umwelt-Kovariation spricht man, wenn Individuen sich Umwelten (Freunde, Hobbys) suchen, welche zu ihren genetischen Dispositionen passen, und dies sich auf ihre weitere Entwicklung auswirkt. Reaktive und aktive Anlage-Umwelt-Kovariation dürften im Laufe des Lebens zunehmen, weil Individuen ihre Umwelt zunehmend selbst gestalten.

Die Bedeutung dieser Varianzkomponenten läßt sich aus geeigneten Versuchsplänen abschätzen: Selektive Partnerwahl ist die einfache Korrelation der Merkmalsausprägungen von Eltern, und die Bedeutung anderer Varianzquellen läßt sich in Zwillings- und Adoptionsstudien ermitteln. Liegt keine selektive Partnerwahl vor, so gibt die verdoppelte Korrelation zwischen einem leiblichen Elternteil und seinem durch Adoption getrennten Kind die Bedeutung der additiven genetischen Varianz an. Effekte der Gendominanz werden von Eltern und Kindern gar nicht, von Geschwistern hingegen zu 25% geteilt. Deshalb verweist eine höhere Korrelation zwischen durch Adoption getrennten Geschwistern gegenüber durch Adoption getrennten Eltern und Kindern auf Gendominanz. Die Ähnlichkeit zwischen (genetisch nicht verwandten) Adoptivgeschwistern schätzt die Bedeutung der geteilten Umwelt, und Merkmalsunterschiede zwischen gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen schätzen die Bedeutung der nicht geteilten Umwelt (Zwillingsstudien).



Erblichkeit

Eines der Ziele der quantitativen Genetik besteht in der Schätzung von Erblichkeiten. Man unterscheidet Erblichkeit im weiten Sinne von Erblichkeit im engen Sinne. Erblichkeit im weiten Sinne wird durch die Intraklassenkorrelation zwischen getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen geschätzt und bezeichnet den Anteil sämtlicher genetischer Komponenten an der phänotypischen Varianz. Erblichkeit im engen Sinne bezeichnet hingegen das Ausmaß der Vererbung von Merkmalen von Eltern auf ihre Nachkommen, also den Anteil der additiven genetischen Varianz. Die Tabelle vermittelt einen Überblick, welche Varianzkomponenten zur Ähnlichkeit von Verwandten beitragen.

Das Symbol c2 ist durch ein Subskript Z für Zwillinge, G für Geschwister und EK für Eltern und Kinder indiziert, da die gemeinsame Umwelt je nach Verwandtschaftsbeziehung unterschiedlich zur Ähnlichkeit beitragen kann. Zum Beispiel korrelieren die Intelligenzquotienten zweieiiger Zwillinge höher miteinander als die normaler Geschwister, d.h. die geteilte Umwelt trägt in höherem Maße zur Ähnlichkeit von Zwillingen als von üblichen Geschwistern bei (Intelligenz). Die Analyse derartiger Daten erfolgt meistens mittels Strukturgleichungsmodellen, in denen spezifiziert wird, welche Varianzkomponenten in die Korrelationen zwischen den miteinander verglichenen Verwandten eingehen (siehe Tabelle). Die Werte für h, d, m und c werden dabei so aus den Daten geschätzt, daß die empirischen Korrelationen möglichst geringfügig von den vorhergesagten Korrelationen abweichen. Einschlägige Untersuchungen zum Intelligenzquotienten erbrachten, daß bei Kindern und Jugendlichen gut 50% der Intelligenzquotienten-Unterschiede auf genetische Faktoren und etwa 30% auf Einflüsse der geteilten Umwelt zurückgehen. Mit zunehmendem Lebensalter steigt die Erblichkeit im weiten Sinne auf etwa 70%, während sich die Bedeutung der geteilten Umwelt deutlich reduziert. Dies könnte auf eine wachsende Bedeutung von Anlage-Umwelt-Kovariation vom reaktiven und aktiven Typ zurückgehen, daß also die Intelligenz einer Person beeinflussende Umweltfaktoren zunehmend durch deren eigene Verhaltensdispositionen geprägt werden. Für mit Fragebogen erfaßte Persönlichkeitsmerkmale fallen die Erblichkeitsschätzungen etwas geringer aus (ca. 45%), erweisen sich Schätzungen für die Bedeutung der geteilten Umwelt als äußerst gering (2-10%) und entfallen ca. 50% der Varianz auf Einflüsse der nicht geteilten Umwelt sowie Fehlervarianz. Da allerdings die Korrelationen zwischen den Fragebogenwerten von Eineiigen Zwillingen nicht substantiell niedriger ausfallen als Übereinstimmungen bei der Beurteilung der gleichen Personen durch verschiedene Beurteiler, dürfte der Anteil der Fehlervarianz erheblich sein. Studien, in denen nur die reproduzierbare Varianz analysiert wurde, gelangten zu deutlich höheren Erblichkeitsschätzungen für Persönlichkeitsmerkmale von etwa 70% (Riemann, Angleitner & Strelau, 1997). Davon unberührt bleibt aber der überraschende Befund, daß die bedeutsamen persönlichkeitsprägenden Umweltfaktoren von Geschwistern nicht geteilt werden. Aufgabe zukünftiger psychologischer Forschung wird sein, diese nicht geteilten Umweltfaktoren zu identifizieren.



Psychische Störungen

Ein großer Teil der verhaltensgenetischen Forschung galt psychischen Störungen. Insbesondere Schizophrenie und kindlicher Autismus erwiesen sich als stark genetisch beeinflußt: Während das Risiko, im Laufe des Lebens an Schizophrenie zu erkranken, in der Gesamtbevölkerung bei ca. 1% liegt, betragen die Konkordanzraten bei Zweieiigen Zwillingen 15% und bei Eineiigen Zwillingen 50%, d.h. wenn ein Eineiiger Zwilling an Schizophrenie erkrankt, beträgt das Risiko einer Erkrankung des Zwillingsgeschwisters ca. 50%. Adoptionsstudien bestätigen den Befund einer substantiellen Erblichkeit der Schizophrenie, aber auch der Bedeutung nicht geteilter Umwelteinflüsse. Interessant sind auch verhaltensgenetische Analysen der Komorbidität psychischer Störungen. Komorbidität bezeichnet den Umstand, daß Personen, bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wird, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit weitere psychische Störungen aufweisen. Multivariate genetische Analysen erforschen die Ursachen derartiger Komorbiditäten, indem sie Kreuzkonkordanzen bei Verwandten analysieren. Eine Kreuzkonkordanz von Ängstlichkeit und Depressivität läge zum Beispiel dann vor, wenn Geschwister von Personen mit Angststörungen ein erhöhtes Risiko für Depressivität aufwiesen (Angst). Sind derartige Kreuzkonkordanzen bei Eineiigen Zwillingen höher als bei Zweieiigen Zwillingen, so spricht dies für eine genetische Quelle der Komorbidität. Einschlägige Studien zeigen, daß Ängstlichkeit und unipolare Depression eine gemeinsame genetische Quelle haben, während dies für Schizophrenie und bipolare Depression nicht gilt.



Molekulare Verhaltensgenetik

Die molekulare Verhaltensgenetik bemüht sich um die Identifikation spezifischer Gene, welche Verhalten beeinflussen. Dies wird durch den Umstand erschwert, daß sowohl individuelle Unterschiede im Normalbereich als auch die klassischen psychischen Störungen polygen vererbt werden. Es gilt also, Gene zu identifizieren, welche einen relativ kleinen Beitrag zur gesamten genetischen Varianz leisten (sogenannte quantitative trait loci oder QTLs). Hierbei bedient man sich vor allem zweier Methoden: Linkage- Studien und Studien zur Allelverknüpfung. Linkage-Studien untersuchen, ob Merkmale in Familien überzufällig häufig gemeinsam vererbt werden. Trifft dies zu, so sollten für die Merkmale relevante Gene auf dem gleichen Chromosom nahe beieinander lokalisiert sein. Andernfalls wäre zu erwarten, daß die meiotische Teilung bei der Bildung von Keimzellen zu einer Trennung dieser Gene geführt hätte. Ist zudem eines dieser Merkmale ein genetischer Marker, dessen Lokalisation im menschlichen Genom bekannt ist, so läßt sich auch die Lokalisation des mit dem Marker gemeinsam vererbten Merkmals eingrenzen. Studien zur Allelverknüpfung untersuchen den Zusammenhang zwischen Basensequenzen in der Desoxyribonukleinsäure (DNA), der Trägerin der genetischen Information, und phänotypischen Merkmalsausprägungen. Derartige Untersuchungen brauchen nicht an Verwandten durchgeführt zu werden, sehen sich jedoch mit dem Problem der ungeheuren Menge an Erbinformation im menschlichen Genom konfrontiert, welches etwa 3 Milliarden Basenpaare umfaßt. Man bemüht sich deshalb um die Identifikation sogenannter Kandidatengene, deren Verknüpfung mit phänotypischen Merkmalsausprägungen sodann hypothesengeleitet untersucht wird. Kandidatengene für Studien an Menschen stammen häufig aus Studien an Säugetieren. Kürzlich berichteten Chorney et al. (1998) eine replizierte Verknüpfung zwischen dem DNA-Marker IGF2R und dem Intelligenzquotienten. Bei zwei hochintelligenten Probandengruppen trat ein spezifisches Allel dieses Gens etwa doppelt so häufig auf wie bei einer Kontrollgruppe durchschnittlich intelligenter Personen. Damit wurde aber keinesfalls das Intelligenzgen identifiziert, denn IGF2R erklärte in dieser Studie nur etwa 1,5% der IQ-Varianz. Diese Art von Forschung dürfte jedoch typisch für verhaltensgenetische Studien in der näheren Zukunft sein.

Literatur

Borkenau, P. (1993). Anlage und Umwelt: Eine Einführung in die Verhaltensgenetik. Göttingen: Hogrefe.

Chorney, M. J. et al. (1998). A QTL associated with cognitive ability. Psychological Science, 9, 159-166.

Plomin, R., DeFries, J.C., McClearn, G.E. & Rutter, M. (1997). Behavioral Genetics. New York: Freeman.

Riemann, R., Angleitner, A. & Strelau, R. (1997). Genetic and environmental influences on personality: A study of twins reared together using the self- amd peer report NEO-FFI scales. Journal of Personality, 65, 449-475.

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