die entscheidende Gestalt des seelischen Lebens. Die Beziehung des Menschen zu seiner Mutter ist unmittelbar und offenkundig. Die Rolle des Vaters war auf den frühen Stufen der Menschheitsgeschichte noch unbekannt, das kleine Kind begreift sie nicht, und letztlich kann kein Mensch absolut sicher sein, wer sein Vater war. Schon die Zeit, die das Ungeborene im Mutterleib verbringt, hat wesentlichen Einfluß auf die spätere Entwicklung. Dabei spielt das Verhältnis der Schwangeren zum werdenden Kinde und die Umstände, unter denen sie lebt, eine wichtige Rolle. Im ersten Lebensjahr ist der Säugling so unbedingt auf die Zuwendung der Mutter angewiesen, daß er kaum als selbständiges Wesen angesehen werden kann. Der Schweizer Analytiker Rene Spitz hat deshalb diesen Lebensabschnitt als Symbiose verstanden. Der Knabe wie das Mädchen erfährt von der Mutter die erste Liebeszuwendung oder die erste Liebesenttäuschung. Für den Knaben wird sie meist später zum Vorbild der liebenswerten und achtenswerten Frau überhaupt. Für das Mädchen setzt sie den Maßstab der Weiblichkeit. In diesem unterschiedlichen Einfluß der Mutter auf die beiden Geschlechter liegen eine Reihe wichtiger psychischer Geschlechtsunterschiede begründet. Hier wird eines der Fundamente der Geschlechter-Beziehung gelegt. Die Bedeutung der Mutter im Einzelfall hängt unter anderem von der Rolle ab, die neben ihr der Vater spielt. Meist vertritt sie eher das Gefühlsleben und die innere familiäre Harmonie. Der Vater verkörpert stärker die Autorität und sorgt für den Schutz der Familie nach außen. In der modernen Gesellschaft ist der Einfluß des Vaters meistens vermindert, und die Erziehung durch die Mutter bekommt sozusagen väterliche Aspekte. Eine Mutter, die ihren Kindern nicht genug Liebe gibt und auf deren Liebe nicht genug eingeht, wird es ihnen schwer machen, späterhin überhaupt an Liebe zu glauben. Eine Mutter, die ihre Kinder zu stark emotionell an sich bindet, schränkt die Möglichkeiten zu einem selbständigen Leben und einer freien Liebeswahl ein. Der Sinn der Einweihungsriten war es vor allem, den Knaben von seiner Mutter-Abhängigkeit zu lösen, und das Zusammensein in Männerbünden vertiefte noch diese Trennung. Das Mädchen wird oft von einer Rivalitäts-Spannung zur Mutter in der freien Entwicklung gehemmt. Das Verhältnis zum Manne wird dadurch mitbestimmt, daß dem Vater als Vorbild des anderen Geschlechtes erst die zweite Liebeszuwendung galt, die erste aber einer Frau: der Mutter. Die Doppelrolle der Frau als Geliebte des Mannes und als Mutter der Kinder bringt viele Konflikte mit sich. Sie lassen sich nur durch eine Art von Ausgewogenheit lösen. Zu ihnen treten heute die Konflikte zwischen Mutterschaft und Beruf. Hier liegen Probleme, die keine Emanzipation beseitigen kann, sondern einzig die bewußte Lebensführung. Die Möglichkeit, Mutter zu werden, und die Pflichten, die sich aus der auch seelischen Abhängigkeit des Kindes ergeben, lassen sich in kein System der Gleichberechtigung einbringen. In Einzelfällen kann eine andere Frau ganz oder teilweise an die Stelle der biologischen Mutter treten. Die Bedeutung der liebenden Fürsorgerin hängt nicht von der Blutsverwandtschaft ab, sondern von der Zuwendung, die sie dem Kinde gewährt.
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