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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Familie

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

die wichtigste, wie ursprüngliche Gruppe, die am ehesten Geborgenheit vermitteln kann und für den Schutz des heranwachsenden Kindes wie für seine Prägung entscheidend ist. Die Eltern, die selbst den traditionellen Wertmaßstäben ihres Volkes, ihrer Kultur, ihrer Religion und ihrer Schicht verhaftet sind, geben durch Erziehung und Vorbild diese Anschauungen an ihre Kinder weiter. So vollzieht sich die erste Anpassung, die eigentliche Sozialisation. Damit wird die Familie zur »Zelle« des Volkes und des Staates. Die Eltern geben den Kindern ein Vorbild für die Einordnung des eigenen Geschlechtes wie für das Verhältnis zum Gegengeschlecht (vgl. Imago). Sie belohnen die Folgsamkeit mit Liebeserweisen und Anerkennung, dämmen den Ungehorsam durch Liebesentzug oder Strafe ein. Ihre Gebote und Verbote werden ihnen zuliebe verinnerlicht und bilden so den Grundstock des Gewissens oder Über-Ich. Sie können aber auch eine Liebe erweisen, die von Verdiensten unabhängig ist, die dann die Verläßlichkeit der Liebe bezeugt und zum Vorbild jeder Liebe wird, wie man sie später sucht. So lehren sie das Kind, auch wiederzulieben. Sie vermitteln ihm ein Selbstwertgefühl und eine Selbstsicherheit, die zu den Voraussetzungen eines erfolgreichen Lebens gehören. Sie können ihm zeigen, daß Schutz und Geborgenheit gegen alle Gefahren ringsum möglich sind. Dabei spielen Vater und Mutter verschiedene Rollen. Die Rivalität zwischen Vater und Sohn oder zwischen Mutter und Tochter (Oedipus bzw. Elektra-Komplex) hindert nicht die Liebe und die Annahme des Eltern-Vorbildes; der Konflikt beider Strebungen verbleibt meist in der Ambivalenz. Das Inzest-Tabu, das die sinnliche, im engeren Sinne sexuelle Liebe zu einem Elternteil oder Geschwisterkind hemmt, beeinflußt entscheidend die psychische Entwicklung der Sexualität. Neben die Erziehung durch die Autorität der Eltern tritt die gegenseitige Erziehung der Geschwister unterein ander. Sie ist das Vorbild für die Anpassung an etwa Gleichberechtigte. Während sich zwischen Brüdern, weniger deutlich zwischen Schwestern, eine Art kameradschaftlicher Rivalität entwickelt, kann das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester jede Beziehung zu einer etwa gleichaltrigen Person des anderen Geschlechtes vorprägen. Zu einer »psychologischen Vollfamilie« gehören eigentlich zwei Söhne und zwei Töchter, sodaß jedes Kind sich sowohl gegenüber dem eigenen wie dem entgegengesetzten Geschlecht im Schutz der familiären Bindung zu verhalten lernt. Früher gehörten zur bürgerlichen und bäuerlichen Familie auch Großeltern, ledige oder verwitwete Tanten und Onkel, und Hauspersonal. Seit langem sind die Regel Kleinfamilien aus Eltern und Kindern, die eine weniger breite Erfahrung bieten, aber ein noch engeres Verhältnis gestatten. Die elterliche Gewalt, die vom Gesetz ausdrücklich eingeräumt wird, verführt nicht selten zum Mißbrauch, und sei es auch nur, weil das Kind als »Besitz« betrachtet wird, mit dem man wie mit einer Sache umgehen könnte, statt als Mensch aus eigenem Recht. Viele Eltern glauben, ihre Kinder wie Tiere dressieren zu müssen, statt sie zu den besten Möglichkeiten des eigenen Wesens zu erziehen. Andere Familien kapseln das Kind stattdessen in besitzergreifender Liebe derart von der Außenwelt ab, daß es nie selbständig wird. Aus allzu enger Bindung erwächst auch die Gefahr, daß sich die familiären Beziehungen wie in einem Treibhaus überentwickeln. Die Probleme eines jeden mit sich selbst und die Konflikte, die sich zwischen einem jeden mit jedem anderen Familienmitglied ergeben, wirken sich auch auf alle anderen aus (vgl. Delegation). Die moderne Psychotherapie geht bei der Behandlung von Kindern, Jugendlichen und verheirateten Personen mehr und mehr von der Erfahrung aus, daß die jeweilige Erkrankung in einer Krankheit der ganzen Familie wurzelt, und versucht auch, die Therapie auf die Familie auszudehnen. Trotz ihrer Fehler, die der Institution der Familie viel Tadel eingetragen haben, erweist sich an dem Vergleich mit den Mängeln einer Heimerziehung (vgl. Internat), daß die familiäre Erziehung jeder anderen überlegen ist. Mit einigem Recht hat man gesagt, daß eine gute Heimerziehung den Menschen immer noch nicht psychisch auf das Leben so vorbereiten und dafür stärken kann wie selbst eine schlechte Familie. Diese bildende Kraft der Familie hat übrigens wenig mit der Blutsverwandtschaft zu tun, wie sich in Familien mit adoptierten Kindern zeigt, die oft gerade so innig miteinander und mit ihren »psychologischen Eltern« verschmelzen wie in einer »natürlichen« Familie. Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß die Familie in der modernen Industriegesellschaft außerordentlich bedroht ist. Der Zerfall der Großfa milie ist so gut wie abgeschlossen, die Klein oder »Kernfamilie« erleidet einen ständigen Funktionsschwund und wird oft nur noch als »Konsumgemeinschaft« erlebt. Die Zahl der Zwei und Einpersonenhaushalte ist ständig im Wachsen begriffen. Wie sich die Versuche mit neuen Formen des Zusammenlebens, etwa in Wohngemeinschaften, auswirken werden, läßt sich noch nicht sagen.Bei den meisten Menschen (sieht man von Waisenkindern, Heimzöglingen oder Kindern aus geschiedenen Ehen ab) ist die Familie die erste Gruppenerfahrung und zugleich der Träger der Sozialisation (Entwicklung). Die große Bedeutung der Gefühlsbeziehungen zwischen dem Kind und seinen Eltern wurde zuerst von S.Freud erkannt (Ödipuskomplex) und später von A. Adler besonders betont, der auf die wichtige Rolle der Geschwister hinwies. Die heutige Familienforschung untersucht vor allem die Kommunikation in Familien mit einem oder mehreren seelisch gestörten Mitgliedern (Doppelbindung, Erziehungsberatung, Schizophrenie). Die von W. Toman über Familienkon-slellat Urnen (das heißt über die Formen von Familien und ihre Folgen für das spätere Lebensschicksal) durchgeführten Untersuchungen haben unter anderem folgende Ergebnisse gebracht:

1. Unter sonst vergleichbaren Gesichtspunkten sind die Personen am wichtigsten, mit denen ein Kind die meiste Zeit verbracht hat.

2. Jene neuen mitmenschlichen Dauerbeziehungen haben vergleichsweise (das heißt nicht regelmäßig, aber in einer über der Durchschnittserwartung liegenden Zahl der Fälle) mehr Aussicht auf Erfolg, die den frühen und frühesten sozialen Dauerbeziehungen ähnlich sind. So bleiben Eheleute, deren Geschwisterrollen sich ergänzen (ältere Schwester eines Bruders heiratet den jüngeren Bruder einer Schwester), mit überdurchschnittlicher Wahrscheinlichkeit länger beisammen und haben mehr (und seelisch gesündere) Kinder als Partner mit sich nicht ergänzenden (= komplementären) Geschwisterrollen. Ähnlich hat auch bei den Eltern jeder Elternteil mit hoher Wahrscheinlichkeit die bessere Beziehung zu jenem Kind, das -bei sonst vergleichbaren Situationen -seiner eigenen Stellung in der Geschwisterreihe am ehesten entspricht.

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