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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Internat

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck

die Wohnschule, hier zugleich als Beispiel für die Anstaltserziehung zum Unterschied von der Erziehung in der Familie. Die meisten Internate sind eingeschlechtlich. In ihnen findet also eine Absperrung vom anderen Geschlecht statt. Der junge Mensch hat keine Gelegenheit, es kennenzulernen; er empfindet es als fremd, unheimlich, wenn nicht gar feindlich. Er überschätzt sein eigenes Geschlecht und entwickelt sich nicht auf die Beziehungen hin, die er mit dem anderen Geschlecht später einmal eingehen müßte. Wird er aus dem Internat in ein offenes Leben entlassen, muß er sich auf die zweigeschlechtliche Gesellschaft vollkommen neu orientieren, ohne Maßstäbe dafür gewonnen zu haben, ja sogar mit einer Voreingenommenheit, die schwer zu überwinden ist. Die Liebesbedürfnisse werden im Internat auf das eigene Geschlecht gedrängt. Auch wenn es keine offen homosexuellen Kontakte gibt, wird doch so die homosexuelle Anlage verstärkt und die Barriere zum anderen Geschlecht erhöht. In der Gemeinschaft mit dem eigenen Geschlecht muß sich zugleich eine starke Rivalität entwickeln, die die Aggression anstachelt. Dieses Beieinander von quasi-homosexuellen Bindungen und entfesselter Aggression in einem Knabeninternat hat Robert Musil in seinem Kadetten-Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (1906) mit einem fast grausamen Verständnis dargestellt. Doch noch in anderer Weise bringt die Internatserziehung eine Gefahr der seelischen Verkümmerung oder Verformung mit sich. Aus dem zahlenmäßigen Mißverhältnis zwischen wenigen Erziehern und vielen Zöglingen ergibt sich, daß auf jeden Jugendlichen viel zu wenig Liebe entfällt. Die Erzieher haben in der geschlossenen Welt der Anstalt eine Machtfülle, die zum Mißbrauch verführt. Oft werden sie einige wenige Lieblinge bevorzugen und dafür die leiden lassen, die ihnen unsympathisch sind. Andere werden sogar ihren sadistischen Neigungen unter dem Vorwand der Strafe nachgeben. Innerhalb der Schülerschaft können ein paar Starke die Schwächeren tyrannisieren. Jugendliche, die zu Gefolgsleuten taugen, haben es sehr viel besser als eigenständige Charaktere ohne große Durchsetzungskraft. Die Anpassung an die Gruppe hat einen gleichsam natürlichen Vorrang vor persönlichen Freundschaften oder der Ausbildung der Individualität. Deshalb haben Diktaturen stets die Anstalterziehung zu schätzen gewußt.

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