eine große Gruppe von Menschen mit Gemeinsamkeiten der Abkunft, der Geschichte, des Lebensraumes und der Sprache. Ist man sich in dieser Gemeinschaft der Zugehörigkeit bewußt und will sie nach außen bekunden, so wird das Volk zur »Nation« und sucht auch die Organisation als Staat. Selbst ein Volk, das auf verschiedene Lebensräume verstreut ist und in ihnen als Minderheit lebt, kann durch Bewahrung seiner Traditionen und Wertvorstellungen seine geistig-seelische Einheit erhalten, wie dies in einem Teil des Judentums und bei den Zigeunern geschah. Andererseits können mehrere Gruppen verschie dener Abkunft, die längere Zeit als Nachbarn unter gleichen äußeren Bedingungen miteinander leben, allmählich zu einem einzigen Volk verschmelzen, wie dies die Geschichte der Vereinigten Staaten zeigt. Entscheidend ist also nicht die Rasse, sondern die Gemeinsamkeit der Erfahrungen und Ideale. In gewissem Sinne kann man ein Volk wie ein Individuum betrachten, dessen Anlagen sich im Laufe der Lebensgeschichte zum Charakter entwickelt haben. Das heißt nicht, daß alle Angehörigen eines Volkes durch die Wesenszüge bestimmt sind, die man als typisch ansieht. Der Volkscharakter zeigt sich einmal in der Häufigkeit bestimmter Fähigkeiten und Mängel und der Seltenheit anderer Eigenschaften, die bei nahe verwandten Nachbarvölkern verbreitet sein mögen. Er äußert sich zum anderen in einigen der höchsten kulturellen Leistungen auf dem einen und der relativen Geringfügigkeit der Beiträge zu einem anderen Gebiet. So zeichnet sich etwa das deutsche Volk durch seine Philosophen und seine Musiker aus, hat aber sehr viel weniger große Maler aufzuweisen als die Italiener oder Franzosen. Der Charakter eines Volkes kann durchaus widersprüchlich sein: so gelten die Deutschen als ebenso tüchtig wie romantisch, als ebenso zerstritten wie gehorsamssüchtig. Alle diese Eigenschaften könnten aus seiner Geschichte geradeso erklärt werden wie die Wesenszüge anderer Völker aus der ihren. Das Wort »Volk« bezeichnet zugleich die einfachen Leute innerhalb einer Gesellschaft zum Unterschied von den gebildeten, wohlhabenden und einflußreichen Schichten. In der Tat verwischen sich mit wachsender Erfahrung, mit dem Einblick in frühere und fremde Kulturen, mit der Lösung des Denkens vom Gefühlsleben die Bindungen an die heimatlichen Traditionen. Kenntnisse und materieller Besitz machen von den Regeln, die in einem engen Bereich gelten, unabhängig. Man kann sich dann auch anderswo heimisch machen oder fühlt sich gar als Weltbürger überall zu-hause. Quer durch die Völker zeichnet sich so eine Grenze zwischen der Elite und der »breiten Masse« ab. Das »Volk« in diesem Sinne ist stärker den Gefühlen als dem Verstande verhaftet. Es steht dem magischen Denken und dem Glauben näher. Es ist anfälliger für Demagogie und neigt eher zur Massenbildung. Es wirkt aber auch natürlicher und hat sich viele Eigenschaften erhalten, wie sie das Kind auszeichnen. So hat man es als »simpel« verachtet und ist geneigt, »schlicht« mit »schlecht« gleichzustellen, sieht in ihm aber auch gern eine ungebrochene Kraft, die höher zu schätzen sei als Kultur und Intelligenz. In dieser Ambivalenz spiegelt sich der Konflikt des Menschen zwischen Natur und Bewußtsein.
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