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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Gefühl

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

einerseits einer der »fünf Sinne« (neben Geschmack, Geruch, Gesichtund Gehör), andererseits eine »Stimmung« (wie Freude, Trauer, Liebe, Haß, Zorn, Begeisterung usw.). Das Organ des Gefühlssinnes ist die gesamte Haut, die aber an einigen Stellen besonders empfänglich ist, so an den Fingerspitzen, an den Übergängen zwischen Haut und Schleimhaut, an den Körperöffnungen und überhaupt an den sogenannten erogenen Zonen. Neben Berührungen nimmt der Gefühlssinn Wärme und Kälte auf, aber auch Bewegungen (Schwingungen), die über das Gleichgewichtsorgan im Ohr unser Gleichgewichtsgefühl bestimmen. Der Gefühlssinn gehört mit dem Geschmack und dem Geruch zu den Sinnen der Nähe, die von der Kultur sehr viel weniger gefördert worden sind als die Sinne der Ferne, Gehör und Gesicht. Eben deshalb spielt er in allen persönlichen Beziehungen eine so hervorragende Rolle. Daß man die Stimmungs-Erlebnisse mit dem gleichen Wort bezeichnet wie den Sinn, der Berührungen wahrnimmt, hat seinen Grund darin, daß die ersten »Gefühle« aus der er sten menschlichen Beziehung stammen, aus der Wärme, die das Kind in der Umarmung der Mutter erfährt, aus der Liebe, die sie ihm durch zärtliche Berührungen mitteilt. In ähnlicher Weise bezeichnet das Fremdwort »Kontakt« sowohl die körperliche Berührung wie auch eine »Beziehung«, die man eingeht. Weil die körperliche Berührung mit einem anderen Menschen eine persönliche Nähe voraussetzt, reiht man die »Gefühle« als Stimmungen unter die Erlebnisse ein, die nicht an die Öffentlichkeit gehören. Als vernünftig gilt nur, wer seine Gefühle beherrschen, ja unterdrücken kann. Man konstruiert einen Gegensatz zwischen Emotion und Intellekt, der in Wahrheit so nicht existiert. Unsere Intelligenz wird immer von unseren Gefühlen beeinflußt, und vielleicht am gefährlichsten gerade dann, wenn wir uns dieser Gefühle nicht bewußt werden. Der Verstand als das Organ, mit dem wir die Wirklichkeit erfassen können, müßte auch die Realität der Emotionen, also der inneren Bewegungen wahrnehmen und erhellen. Die Bedeutung des Gefühlssinnes ist für den Menschen größer als für viele Tiere, da seine Haut nicht durch ein Fell geschützt ist. Er ist kein »nackter Affe« ; gerade weil er nackt ist, kann er kein Affe mehr sein. Durch die unvergleichlich lange Zeit, während der er als Kind von der liebenden Fürsorge der Eltern abhängig ist, spielen die Berührungs und Wärme-Erfahrungen für seine Entwicklung eine so große Rolle. Mit seinen Gefühlen reagiert er nicht auf Instinkte, die vor aller Erfahrung als automatische Mechanismen eingepflanzt wären, sondern auf Wiederholungen einer früheren Erfahrung. Deshalb lassen sich Gefühle auch nicht als feststehende Einheiten verstehen. Haß oder Liebe können jeweils sehr unterschiedliche Bedeutung annehmen und sich auch in den verschiedensten Mischungsverhältnissen miteinander vermengen. Gefühle entstehen nicht unmittelbar, sondern sie folgen Bedürfnissen. Die Lehre von den Gefühlen beherrschte die frühe »Psychologie« der Dichter; die wissenschaftliche Psychologie kann sich mit ihr nicht begnügen. Der Behaviorismus fragt überhaupt nicht nach ihnen, sondern nur nach dem Verhalten, in dem sie sich ausdrücken. Die Tief enpsychologie will wissen, wie der Haß oder die Liebe jeweils aussehen und woher sie kommen.Zunächst oft schwer bestimmbare, meist allmählich deutlichere Gestalt annehmende und dann mit einem Handlungsdruck (Bedürfnis, Motiv) einhergehende Zustände des Ichs, die man als Anteilnahme des Bewußtseins am Wirken der Handlungsantriebe ansprechen kann. Daher auch der Ausdruck Emotion für Gefühl (lateinisch e bedeutet aus, movere bewegen). Gefühle können entweder innerlich anwachsende primäre Bedürfnisse bewußt machen (zum Beispiel das Gefühl von Hunger, Durst) oder durch ihre Art der Begleitung eines äußeren Eindrucks (Anblick einer schönen Frau) bisher noch nicht so deutliche innere Bedürfnissituationen klarer machen. Ferner verbinden sie sich (Assoziation, bedingter Reflex) mit zahlreichen Situationen, welche mittelbar oder unmittelbar mit diesen primären, biologisch gegebenen Bedürfnissen zusammenhängen. Oft geraten die Gefühle in einen Gegensatz zum vernünftigen, zweckgerichteten Denken. Sie sind immer «naiv», spiegeln unseren Bedürfniszustand unmittelbar wider, gleichgültig, ob diese Bedürfnisse in der jeweiligen Situation angebracht und zu verwirklichen sind oder nicht. Viele Menschen in unserer Industriegesellschaft neigen (auch aufgrund ihrer Erziehung) dazu, diese innere Fülle und Freiheit der Gefühle abzuspalten und zu verdrängen (Verdrängung). Das ist eine Forderung, die in der Sozialisation von Männern noch weil ausgeprägter auftritt als in der von Frauen. Eine solche Gefühlsverleugnung kann das Bewältigen von Konflikten unmöglich machen, weil sie ein angemessenes Verstehen der Gefühle des Partners erschwert (Einfühlung).

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