der innere Gehalt zum Unterschied von der äußeren Gestalt. Der Kuß etwa »ist« eine Berührung der Haut mit den Lippen; aber er nimmt je nachdem sehr verschiedene Bedeutungen an: die einer bloßen Formalität, die einer flüchtigen Zärtlichkeit, die einer innigen Zugehörigkeit oder die einer begehrenden Leidenschaft. Mit dem Begriff der Bedeutung beginnt sozusagen die verstehende Psychologie. Sie begnügt sich nicht damit, ein Verhalten zu beschreiben, dessen äußere Bedingungen zu erforschen und seine psychologischen Folgen festzustellen, sondern sie will es »deuten«, das heißt, seine inneren Zusammenhänge ermitteln. So würde ein Seelenarzt der verhaltenspsychologischen Schule einem Menschen, der an Schlangenfurcht leidet, diese Angst in einem allmählichen Lernvorgang »abgewöhnen«, während der Tiefenpsychologe fragen würde, was dem Patienten die Schlange bedeutet. Er würde in ihr ein Symbol, also ein Sinnzeichen sehen, das für etwas anderes steht. Obwohl solche Symbole überpersönliche Zeichen sind, gewinnen sie im Einzelfall nur dann Macht, wenn sie auf Erlebnisse zurückgehen, die sich hinter ihnen verstecken können. Der Psychoanalytiker würde also nach den früheren Erfahrungen forschen, die der Schlange ihre persönliche »Bedeutung« verliehen haben. Zu den wichtigsten Instrumenten der Psychoanalyse als Forschung und Therapie gehört die Deutung von Träumen, Fehlleistungen und Erinnerungen, deren Bedeutung sich erst aus ihren inneren, versteckten Zusammenhängen erweist. Nach Ansicht der psychoanalytischen Schule verlieren die verdrängten frühkindlichen Erfahrungen und Erlebnisse ihren schädlichen Einfluß auf die menschliche Seele, wenn sie mit der Methode der »freien Assoziation« hervorgerufen, vom Analytiker bewußt gemacht und gedeutet und vom Patienten verstanden werden. Bedürfnis, ein Mangel, der nach Abhilfe verlangt. Unmittelbar körperliche Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen, um das Leben zu erhalten, sind Hunger und Durst. Der Selbsterhaltungstrieb, der ihnen entspricht, ist nie infrage gestellt worden. Anders beurteilte man den Sexualtrieb, der sich nicht wie Hunger und Durst auf die Erhaltung des Einzelwesens, sondern auf die Erhaltung der Art richtet und damit Ausgangspunkt jeder sozialen Regung ist. Anders als Hunger und Durst kann das sexuelle Verlangen, die Libido, auf andere Ziele als das ursprüngliche verlagert werden. Es ist nicht nur auf die Lösung einer körperlichen Spannung gerichtet, sondern auch auf die Befriedigung rein seelischer Bedürfnisse. Zu ihnen gehört das Verlangen nach Lust, aber auch das nach Liebe als einer Wertschätzung durch andere, die zugleich Schutz und Geborgenheit bedeutet. Man verlangt danach, zu lieben, weil damit das Leben einen neuen Sinn erhält. In der Bedeutung, die man für andere gewinnt, sieht man den eigenen Wert bestätigt. So wird auch die Selbstliebe, der Narzißmus, genährt. Aus dem Bedürfnis nach Selbstbestätigung erwachsen abgeleitete Bedürfnisse wie Ehrgeiz, Ruhm, Machthunger und Idealismus. Es können sogar künstliche Bedürfnisse, wie das Bedürfnis nach bestimmten Konsumgütern, geweckt werden. Dabei bedient sich die Werbung auch des Status-Denkens. Sie geht davon aus, daß jeder es den andern gleichtun oder sich gar vor ihnen auszeichnen möchte: das soll er tun, indem er erwirbt, was andere seines Standes erwerben und was ihn über Angehörige niederer Stände erhebt. Es gibt ein historisches Beispiel dafür, daß auch unser Gemeinschaftsbedürfnis, das doch keinen unmittelbaren körperlichen Ausdruck zu haben scheint, einer Lebensnotwendigkeit gehorcht. Der Staufen-Kaiser Friedrich II. (t 1250) wollte wie ähnlich andere Herrscher die Ursprache der Menschheit ermitteln. Er ließ deshalb eine Reihe von Kindern isoliert in einem Heim aufziehen, in dem alle ihre unmittelbaren Bedürfnisse hinreichend befriedigt wurden, dessen Pflegerinnen aber angewiesen waren, mit den Kindern kein Wort zu sprechen. Er erwartete, daß sich ohne jedes Vorbild die Sprache so entwickeln werde, wie sie sich bei Beginn der Menschheit »natürlich« entwickelt habe. Das Experiment endete damit, daß alle Kinder starben der Mangel an seelischer Zuwendung wurde tödlich.
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