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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Psychoanalyse

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Julia Schneider-Ermer

Nach einer Definition ihres Begründers Sigmund Freud der Name 1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, die sonst kaum zugänglich sind; 2) einer Behandlung neurotischer Psychoanalyse Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen« (1923). Die Psychoanalyse geht von der Erfahrung aus, daß der größte Teil des seelischen Lebens unbewußt ist. Das Verdrängte kann mit ihren Mitteln weitgehend wieder bewußt gemacht werden. Das Triebleben selbst läßt sich nur aus seinen bewußtseinsfähigen Äußerungen erschließen. Zu den besonderen Methoden der psychoanalytischen Forschung gehört die freie Assoziation, mit ihrer Hilfe die Deutung von Fehlleistungen und Träumen, die Aufschlüsselung der Symbol-Sprache, wie sie sich oft im Traum, in Märchen und Sagen, manchmal auch in unwillkürlichen Handlungen oder den Symptomen einer seelischen oder seelisch mitbedingten (psychosomatischen) Krankheit ausdrückt. Damit geht die Psychoanalyse weit über den Bereich der Medizin, der Psychotherapie hinaus. Die Tiefenforschung, mit der sie begann, war freilich nur im Zusammenhang mit Leiden möglich, die Kranke bereit machten, sich einer Begegnung mit ihren wahren Konflikten auszusetzen. Nur unter der Kontrolle des analytischen Therapeuten läßt sich der Widerstand gegen solche Erkenntnisse ausreichend überwinden. Aus der Stärke, die dieser Widerstand im Laufe der Kur jeweils an nimmt, liest der Arzt ab, welche Konflikte am meisten verdrängt sind, also auch die größte Bedeutung haben. Der Patient würde der Führung des Arztes zur peinlichen Selbsterkenntnis nicht folgen, wenn nicht zwischen ihm und dem Therapei ten eine Art Liebesverhältnis entstünde, die sogenannte Übertragung. Sie erwirbt ihre Kraft aus früheren Liebeserfahrungen, kann aber auch negative Elemente des Vorbildes als Auflehnung und sogar Haß nachvollziehen.

Das Interesse des Arztes an seinem Patienten kann den Therapeuten zu einer entsprechenden Gefühlsbeziehung verleiten, einer Gegenübertragung, in der auch der Arzt seinen Patienten irgendwie mit anderen Personen seiner Gefühlserfahrung verwechseln würde. Deshalb soll der Psychoanalytiker in einer »Lehranalyse« seiner eigenen Konflikte bewußt geworden sein und sich ständig durch Selbstanalyse unter Kontrolle halten. Die psychoanalytische Therapie wurde zu einem wichtigen Mittel der psychoanalytischen Forschung. In diesem Bereich wurde Freud zum ersten Mal auf die Bedeutung der Träume aufmerksam, deren Aufschließung dann zeigte, daß sich in den Formen seelischer Krankheit nur besonders kraß die gleichen Konflikte äußern, die das Leben aller Menschen mitbestimmen. Die Forschung erstreckte sich auf alles, was Menschen fühlen, denken und tun, so auf die Völkerkunde, auf Mythen und Mär chen, auf die Kunst und die Religion, auf Krieg und Verbrechen, auf die Gemeinschaftsbildung und alles, was sich zwischen den Menschen abspielt. Die Psychoanalyse hat sich in auffallender Weise mit Erscheinungen beschäftigt, die zuvor unbeachtet geblieben oder für unwichtig gehalten worden sind, wie eben den Träumen oder den Fehlleistungen, mit »Kleinigkeiten« oder sogar »Abfallprodukten« des psychischen Lebens. Aber nur auf eine solche unauffällige Weise kann das Unbewußte sich über die Schwelle der Verdrängung hinweg Ausdruck verschaffen. Nur im Studium dieser Beiläufigkeiten läßt sich eine Einsicht in das Unbewußte gewinnen. Einzelne Erkenntnisse freilich würden kaum beweiskräftig wirken; erst die Tatsache, daß sich solche Erkenntnisse unablässig wieder und wieder aufdrängen, verschafft den psychoanalytischen Folgerungen ihre Bedeutung. Die Psychoanalyse sucht die seelischen Vorgänge zu ermitteln, indem sie sie als Gegenspiel zwischen verschiedenen Kräften, Schichten oder »Systemen« versteht. Als Ursprung sieht sie das Triebleben an, das sich im Unbewußten, im Es, abspielt. Nach Freuds letzten Konzeptionen sind es zwei Triebe, die in der Psyche gegeneinanderstehen und sich vermischen die Sexualität in einem sehr weiten Sinne, unter Einschluß der Selbstliebe, des Narzißmus, und der Destruktions oder Todestrieb. Der Vorwurf gegen die Psychoana lyse, sie erkläre alles aus der Sexualität, sei ein »Pansexualismus«, ist falsch, weil sie niemals andere Triebe geleugnet hat und sich ebenso intensiv mit den Hemmungen unter dem Einfluß der Moral beschäftigt. Zugleich liegt hier aber ein Mißverständnis insofern vor, als die Psychoanalyse den Begriff »Sexualität« viel weiter faßt, als das im sonstigen Sprachgebrauch üblich ist. Für sie reicht die Sexualität einmal weit über den genitalen Bereich hinaus, umfaßt jede Form der körperlich-sinnlichen Lust. Zum anderen wird sie hier in direkte Beziehung zur Liebe als seelischer Regung gesetzt.

Die Libido, die Triebkraft der Sexualität, wird als ein Strom verstanden, der jede Liebe speist, so weit sie sich auch von der Geschlechter-Beziehung entfernt haben mag. Nach psychoanalytischer Einsicht macht die menschliche Seele im Laufe des Lebens eine Entwicklung durch. Zwar bleibt das, was wir auf die Welt mitbringen, grundlegend (primär). Aber es modelt sich unter dem Einfluß der Umwelt, unter dem Zwang zur Erkenntnis der äußeren Realität, und mit Rücksicht auf die Mitmenschen, in deren Gemeinschaft wir uns einpassen müssen, um. Die entscheidende Entwicklung findet während der frühen Kindheit statt. Hier drängt die Erziehung die Triebe zu einem gesellschaftlich angemessenen Ausdruck. Sie wiederholt und verstärkt damit jene Entwicklung, die in der Geschichte der Menschheit, im Laufe der Zivilisation stattgefunden hat. Ein entscheidender Konflikt entsteht daraus, daß das Kind seine ersten Liebeserfahrungen mit den Eltern macht, dann aber der direkt sexuelle Ausdruck der Liebe gerade ihnen gegenüber unter das Inzest-Tabu fällt. Die Oedipus-Situation des Knaben schließt die Rivalität dem Vater gegenüber ein, den er ebenso überwinden möchte, wie er nach seinem Schutz verlangt und seinem Vorbild folgen will. Der Oedipus-Konflikt ist für die Psychoanalyse ein Kernproblem der seelischen Ausrichtung. Die Einzelheiten der individuellen Erfahrung bestimmen den Ausgang dieses Konfliktes. Überhaupt ist die seelische Verfassung eines reifen Menschen das Ergebnis seiner seelischen Geschichte. Die Entschlossenheit, mit der die Psychoanalyse das seelische Leben auf seine Grundlagen, die Triebe, zurückgeführt hat, mußte auf heftige Widerstände stoßen. Selbst einige der Schüler Freuds, die einsehen mußten, daß erst ein Zugang zum Unbewußten wichtige Einsichten erbringen kann, haben später die Bedeutung der Sexualität wieder geleugnet. Sie versuchten, eine weniger schockierende Tief enpsychologiezu entwickeln oder sonst eine Theorie aufzustellen, die weniger schwierig und für die Selbsterkenntnis des Menschen weniger peinlich ist. Noch heute wirft man Freud gern vor, daß seine Theorien abstoßend seien, oder unterstellt ihm Aussagen, die er nie gemacht hat, um seine Lehre als unsinnig zu brandmarken. Ihn selbst müssen manche seiner Einsichten, so vor allem die Erkenntnis der kindlichen Sexualität, außerordentlich verstört haben. Aber anders als seine Gegner hatte er den Mut, zu sehen und zu sagen, was ihm die Wirklichkeit zeigte.

Teilgebiet der Psychologie, das folgende Teile umfaßt: 1. Eine Forschungsmethode, die dazu dient, die unbewußte Bedeutung sonst unverständlicher Erscheinungen (Fehlleistungen oder Träume) zu erklären. 2 Eine Methode der Psychotherapie, die mit Hilfe einer besonderen Behandlungstechnik Neurosen heilen kann. 3. Eine Theorie der seelischen Entwicklung, der Kultur und vieler psychologischer Vorgänge im Alltag, verbunden mit einer besonderen Erklärung der Neurosen. Freud ging von Beobachtungen aus, daß ein Mensch in Hypnose Aufträge ausführen kann, ohne von ihnen zu wissen; zur Rede gestellt, erfindet er eine Begründung (Rationalisierung) . Er übertrug diese Erklärung auf Fehlleistungen des Alltags und endlich auf Träume, aus denen er ebenfalls Wünsche und Gefühle ableiten konnte, die dem Träumer unbewußt waren, aber sein Verhalten beeinflußten. Diese Alltagserscheinungen fand er endlich in den Krankheitserscheinungen bei Neurosen wieder. Die psychoanalytische Methode. Freud entwickelte sie, als er die Hypnose aufgab, weil sich nicht alle Patienten tief genug hypnotisieren ließen und er mit diesem Mittel auch nicht genügend Aufschluß über die Entstehung der Neurose erreichen konnte. Statt einen Kranken zu hypnotisieren, forderte er ihn auf, alles zu sagen, was ihm zu einem bestimmten Symptom oder Traum einfiel, ohne sich durch irgendwelche Rücksichten auf Sinn, Zusammenhang, die Person des Arztes oder gesellschaftliche Normen beeinträchtigen zu lassen. In diesen freien Einfällen oder freien Assoziationen tauchte dann regelmäßig ein bisher unterdrückter Inhalt (Verdrängung) auf, häufig in entstellter Form. Diese Entstellungen werden durch die Deutungen des Psychoanalytikers rückgängig gemacht, so daß endlich der Patient ein Stück seines bisher abgespalteten Unbewußten dem bewußten Ich angliedern kann.

Die weitere Forschung mit dieser Methode führte dazu, daß Freud die kindliche Sexualität, den Ödipuskomplex und damit die Bedeutung der Kindheit für die seelische Entwicklung und den Aufbau der Persönlichkeit entdeckte. Die Lehre vom Unbewußten wurde weiter ausgebaut, auf die Kulturgeschichte angewendet (da die Einflüsse der Kultur die Verdrängung mancher Triebwünsche erzwingen), und endlich zu einer Metapsy-chologie erweitert, als Freud deutlicher sah, daß nicht nur das Verdrängte (das Unbewußte, zum Beispiel ein Triebwunsch), sondern auch das Verdrängende (die Abwehr) nicht bewußt sind. Er schuf eine «Topik», das ist eine Lehre von verschiedenen inneren Instanzen, dem Es, Ich und Über-Ich, und eine neue Trieblehre: Hatte er früher die Sexualtriebe (Art erhaltung) den Ich-Trieben (Selbsterhaltung) gegenübergestellt, so erklärte er seit 1920 die menschliche Motivation durch das Zusammenwirken von Lebens- und Todestrieben, aus deren Mischung die verschiedenen Motive von Liebe bis zur Aggression entstehen. Die Psychoanalyse ist bis heute die wichtigste und für das Alltagsleben aufschlußreichste psychologische Theorie; sie hat die meisten Formen der Psychotherapie angeregt und in vielen neueren Forschungen ihre Bedeutung, aber auch ihre lebendige Wandlungsfähigkeit bewiesen. Dabei werden viele einzelne Ansichten Freuds heute nicht mehr als allgemeingültig hingenommen, während man an der Fruchtbarkeit seiner Beobachtungen insgesamt nicht mehr zweifeln kann. Die umstrittenen Punkte der Lehre Freuds sind hauptsächlich seine Auffassung der Todestriebe, der Sublimierung, der Psychose, der Libido-Theorie und des Penisneids.

Unter der Psychoanalyse versteht man die auf Sigmund Freud (1856 - 1939) zurückgehende Bezeichnung für eine Erkenntnismethode, eine Theorie über die Entstehung und die Auswirkung unbewußter psychischer Prozesse sowie ein therapeutisches Verfahren. Freud gilt auch als der Begründer der Tiefenpsychologie, zu der neben seiner Lehre die Adlersche Individualpsychologie und die Jungsche Analytische Psychologie gehören. In der Gegenwart wird die Tiefenpsychologie immer stärker mit der Psychoanalyse gleichgesetzt, da sowohl die Individualpsychologie als auch die Analytische Psychologie diverse Amalgamierungen mit neueren Theorieströmungen der Psychoanalyse eingegangen sind. Insbesondere die von Heinz Kohut begründete Selbstpsychologie ermöglichte es Adlerianern und Jungianern, sich wieder als Psychoanalytiker zu verstehen. Neben der Selbstpsychologie existieren noch andere Weiterentwicklungen der klassischen Trieb- und Strukturtheorie, wie z.B. die Ich-Psychologie, die Objektbeziehungstheorien, die interpersonelle Psychoanalyse.

Stellenwert der Psychoanalyse

Die moderne Psychoanalyse umfaßt Teildisziplinen wie die Allgemeine und Spezielle Krankheitslehre, Psychosomatik, Behandlungstechnik, Entwicklungspsychologie, Kulturtheorie, Sozialpsychologie, Methodologie und das weite Feld der Angewandten Psychoanalyse, wie z.B. in der Pädagogik, Organisationspsychologie, Ethnologie (Ethnopsychoanalyse), Literaturwissenschaft. Unter Metapsychologie verstand Freud eine Konstruktebene, die über die rein deskriptiven Sachverhalte z.B. der klinischen Theorieebene hinausgeht und Erklärungen bereitstellt, die auch anschlußfähig an benachtbarte Wissenschaften wie Biologie und Neurowissenschaften sind. Die Psychoanalyse hat das intellektuelle und kulturelle Leben des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen der westlichen Welt stark geprägt. Die von Freud inaugurierten Hypothesen und Erkenntnisse, die von der Psychologie des Alltags bis hin zur Institutionenkritik reichen, haben auf viele humanwissenschaftliche Disziplinen und ihre Anwendungen sehr befruchtend gewirkt. Die von ihm entwickelten Gedanken zur therapeutischen Veränderung psychischen Leids sind in viele, keineswegs nur psychoanalytische Therapieformen eingeflossen; in der pädagogischen Praxis haben sie die Kindererziehung in vielerlei Hinsicht beeinflußt.

Kritik an der Psychoanalyse

Für Außenstehende, gilt die Psychoanalyse, die mit dem klassischen Werk Freuds gleichgesetzt wird, als überholt. Tatsächlich wird die Psychoanalyse in ihren diversen Weiterentwicklungen aber weltweit gelehrt und praktiziert.

Dennoch hat die relative Geschlossenheit der psychoanalytischen Theorie und ihr über Jahrzehnte gleichmäßiger Einfluß auf die Human- und Sozialwissenschaften immer wieder kritische Stimmen auf den Plan gerufen. Diese reichen vom Vorwurf des Pansexualismus, der moralischen Zersetzung, der Immunisierung im Sinne einer Unmöglichkeit der Falsifizierung ihrer Hypothesen (Karl Popper) bis hin zu der Kritik, daß die Psychoanalyse ihre Hypothesen, die durchaus falsifizierbar seien, noch nicht ausreichend einer empirisch positivistischen Überprüfung ausgesetzt habe (Adolf Grünbaum). Die zuletzt genannte Einschätzung spiegelt die Einseitigkeit einer wissenschaftstheoretischen Position wider, deren szientistische Methodologie gerade nicht der erkenntnistheoretischen Position der Psychoanalyse gerecht werden kann. Dies schließt aber keineswegs aus, daß vereinzelt Hypothesen auch mit herkömmlichen quantitativen Methoden überprüft werden können, wie z.B. in der psychoanalytischen Psychotherapieforschung (Forschungsmethoden).

Methodik

Gleichwohl stellt der psychoanalytische Umgang mit einem Problembereich erhebliche konzeptuelle und diagnostische Anforderungen. Gegenwärtiges Erleben und Handlungen müssen vor dem Hintergrund des bisher erfahrenen Lebenszusammenhanges eines Menschen studiert werden; die biographische Dimension wird nur angemessen erfaßt, wenn man auch die kulturellen und geschichtlichen Faktoren, in der die Sozialisation des Betreffenden stattgefunden hat, hinreichend berücksichtigt. Die Äußerungen und Erzählungen einer Person sind dabei nicht unmittelbar Indikatoren für das tatsächlich Erlebte, sondern in unterschiedlichem Ausmaß von Selbsttäuschungen durchzogen. Das Selbstverständnis eines Menschen geht nicht in seiner rationalen Einschätzung auf, sondern ist von unbewußten emotionalen und körperlichen Prozessen durchwirkt, was heutzutage auch immer stärker in den Kognitionswissenschaften erkannt wird, die mittlerweile von einer “embodied cognitive science” sprechen. Häufig wird Psychoanalyse lediglich mit einem therapeutischen Verfahren gleichgesetzt. Freud verstand unter Psychoanalyse aber auch und vor allem eine Methode, das Unbewußte bewußt zu machen und eine Theorie über die Entstehung und die Auswirkung unbewußter psychischer Prozesse. Bei der Entwicklung seiner Methodik, Unbewußtes bewußt zu machen, ließ Freud sich von einer für damalige Verhältnisse revolutionären Gegenstandsbestimmung leiten: Seine systematische Beschreibung eines dynamischen Unbewußten, das dem Bewußtsein nicht, auch nicht durch noch so große Aufmerksamkeitsanstrengung und den forcierten Versuch, sich zu erinnern, zugänglich wird, markiert den Beginn einer Psychologie, die eine enorme Ausweitung jenseits der Grenzen des Bewußtseins vorgenommen hat. Zugleich postulierte Freud damit auch eine neue Theorie über den menschlichen Geist, die von postmodernen Erkenntnistheorien gerade erst eingeholt wird: Sowohl der rationalistische Glaube an die Macht des Intellekts als auch der empiristische Glaube an die Zuverlässigkeit der Sinnesorgane und der Wahrnehmung wurde von ihm erschüttert. Denn der Rationalismus wie auch der Empirismus gehen davon aus, daß die Auswirkungen des Körperlichen, der Leidenschaften, von sozialen Autoritäten oder Denkgewohnheiten entweder kraft reinen Denkens oder aufgrund vorurteilsloser intersubjektiver Beobachtungen oder Experimente aufgehoben werden können. Die Psychoanalyse hat jedoch berechtigte Zweifel an der Möglichkeit geäußert, eine vom Körperlichen, Emotionalen, Leidenschaftlichen unabhängige Erkenntnis, sei es auf dem Wege des Denkens, sei es aufgrund empirischer Methoden, zu erlangen. Vielmehr sind wir als erkennende Menschen immer beeinflußt von Kräften, die nicht unserer bewußten Kontrolle unterstehen. Erkenntnis muß deshalb immer als perspektivisch, unvollständig und abhängig begriffen werden. Unbewußte psychische Einflüsse kodeterminieren unsere Erkenntnis, auch wenn wir sie noch so als rational logisch oder empirisch gut begründet erleben. Rationale und objektive Begründungen stellen sich aus psychoanalytischer Sicht deshalb allzuoft als Rationalisierungen, als vernünftig und sozial akzeptabel erscheinende Erklärungen heraus.

Müssen wir deshalb das Streben nach Wahrheit und die Möglichkeit der Bestätigung von Hypothesen als wahr oder falsch aufgeben? Für die psychoanalytische Erkenntnistheorie ist diese von Wissenschaftstheoretikern empfohlene und von den Einzelwissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaft übernommene Erkenntnishaltung des Strebens nach Wahrheit kein primäres Anliegen. Vielmehr geht es ihr darum, die Wahrheit des Einzelnen, seine individuelle, lebensgeschichtlich geprägte Wahrheit, die in unterschiedlichem Ausmaß verschüttet und verborgen sein kann, zur Geltung zu bringen.

Therapeutische Techniken

Auch heute noch ist es der Psychoanalyse ein Anliegen, biographisch und gesellschaftlich bedingtes psychisches Leiden von Menschen zu lindern. Nicht zu Unrecht hat man deshalb die Psychoanalyse als eine Theorie der Revolution bezeichnet, denn ihr geht es darum, unterdrückte und verkümmerte Erlebnispotentiale eines Menschen zu befreien. Aus klinisch therapeutischer Sicht versuchte Freud die Befreiung zunächst mit manipulativen Techniken, z.B. durch hypnotische Suggestion, Handauflegen und verhaltenspädagogische Maßnahmen, bis er nach und nach entdeckte, daß, sofern er nur seinen Patienten die Aktivität überließ, diese selbst die verborgenen Ursachen ihrer neurotischen Störungen in der Übertragung agierten. So war der Weg von der kathartischen Methode des Abreagierens hin zur eigentlichen psychoanalytischen Methode bereitet, die von Freud selbst als "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten” (Freud, 1914) bezeichnet wurde. In dieser Einstellung ist der wichtige und für die Psychoanalyse seitdem maßgebliche Gedanke enthalten, daß Gefühle, Ängste und Phantasien ein Gegenüber brauchen, das in seinem Erleben die pathogenen Erfahrungen aufnimmt und die darin enthaltenen unbewußten Interaktionsszenen entschlüsselt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt gilt die Psychoanalyse als die Wissenschaft von den unbewußten Beziehungen, zumeist mit dem Fachausdruck von Übertragung/Gegenübertragung bezeichnet. Nur die Aufhebung der herkömmlichen objektivierenden Epistemologie ermöglicht das Erfassen der für das Bewußtsein sonst unbewußt bleibenden Bedeutungen im kommunikativen und interaktiven Handeln. Dennoch hat sich auch bei diesem zentralen Topos eine wichtige Änderung im Laufe dieses Jahrhunderts ergeben: War es für Freud noch in Anlehnung an die naturwissenschaftlich geprägte Methodologie seiner Zeit wichtig, die Übertragung zwar zu identifizieren, aber dennoch davon wie ein unparteiischer Beobachter unberührt zu bleiben, so sind heutige Psychoanalytiker davon überzeugt, daß dies nicht möglich ist. Sowohl der Fortschritt erkenntnistheoretischen Reflektierens als auch empirische Untersuchungen haben diesem Unberührbarkeits-Axiom die Grundlagen entzogen: Auf subtile Weise agiert und reagiert der Analytiker, z.B. als Kliniker, immer schon auf die Gesprächsangebote seines Gegenübers; Studien über das Affektdisplay und nonverbale körperliche Ausdrucksphänomene legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Übertragung und Gegenübertragung sind miteinander verschränkt, und die Reflexion des Einflusses, den ein Therapeut auf seinen Patienten ausübt, wird somit von zentraler Bedeutung.

Menschenbilder

Psychoanalyse als Theorie unbewußter Prozesse in der Entwicklung der Persönlichkeit, bei der Entstehung von Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und psychosomatischen Erkrankungen aufgrund von unbewältigten Traumatisierungen (Trauma) und Konflikten thematisiert überwiegend die unbewußten Motive und Intentionen menschlichen Handelns. Bewußt-rationales Handeln als Thema der Psychologie und das nicht bewußt ablaufende, organismische oder neuronale Geschehen als Gegenstand der Kognitionspsychologie und Neurowissenschaften ist hingegen von nachgeordnetem Interesse. Die Psychoanalyse geht davon aus, daß man auch in den idealsten Fällen bezüglich der Unterstellung von Rationalität als permanenter Disposition Vorsicht walten lassen sollte oder mit anderen Worten, daß rationales Handeln - unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen - eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Auch wenn das Menschenbild der klassischen Psychoanalyse heute - vor allem durch die psychoanalytische Kleinkindforschung und deren Postulat eines neugierigen und kompetenten Säuglings (Neugeborenes, kompetentes) - eine kräftige Korrektur erfährt, ist selbst die moderne Psychoanalyse weit davon entfernt, das Menschenbild eines homo rationalis zugrundezulegen. Auch das von der Computermetapher inspirierte Informationsverarbeitungs-Modell der meisten gegenwärtigen psychologischen Theorien wird nach psychoanalytischer Auffassung der Wirklichkeit menschlichen Erlebens und Handelns nur in Teilbereichen gerecht. Selbst wenn gesellschaftliche Machtverhältnisse, Ideologien und fundamentalistische Glaubenssysteme abgeschafft werden könnten, würde dennoch eine Notwendigkeit zur Selbstreflexion und zur Emanzipation von solchen Bedeutungen bestehen, die zu überflüssigen Handlungs- und Erlebniseinschränkungen führen. Denn Menschen generieren grundsätzlich mehr Bedeutungen, als sie zu verstehen und handhaben wissen. Und weil dies stets aufs Neue eine ärgerliche Tatsache darstellt, ist darin vermutlich auch der Hauptgrund dafür zu erblicken, daß Psychoanalyse bis zum heutigen Tag immer wieder attackiert wird. Menschen sind sich nicht für sich selbst durchsichtig, können ihre Handlungsweisen nicht lückenlos nach rationalen Motiven erklären, geschweige denn prognostizieren. Die von Freud als narzißtische Kränkung bezeichnete Annullierung des Cartesianischen Selbstverständnisses, in dem die bewußte Verfügung über die Intentionalität das einzig Gewisse ist, hat deshalb auch ein Jahrhundert nach Freuds Schöpfung der Psychoanalyse immer noch Gültigkeit.

Literatur

Krause, R. (1997/98). Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre. 2 Bände. Stuttgart: Kohlhammer.

Kimmerle, G. (1997). Der Fall des Bewußtseins. Zur Dekonstruktion des Unbewußten in der Logik der Wahrheit bei Freud. Tübingen: Edition diskord.

Kurzweil, E. (1993). Freud und die Freudianer. Geschichte und Gegenwart der Psychoanalyse in Deutschland, Frankreich, England, Österreich und den USA. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse.

Mertens, W. (1990/1). Einführung in die psychoanalytische Therapie. 3 Bände. Stuttgart: Kohlhammer.

Mertens, W. (1997). Psychoanalyse. Geschichte und Methoden. München: Beck.

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