die Wiederholung einer Gefühlsbeziehung aus der Vergangenheit im Verhältnis zu anderen, neuen Menschen. Dieser Vorgang wurde zuerst deutlich in den seelenärztlichen Behandlungen der Psy choanalyse. Es stellte sich heraus, daß sich der Patient an die Konflikte, die ihn krank gemacht haben, nicht bloß erinnert, sondern sie in seinem Verhältnis zum Arzt auch wiederbelebt. Er schätzt den Arzt so ein, wie er einst den Vater, die Mutter, oder eine andere wichtige Person aus der Kindheit eingeschätzt hat. Dann verhält er sich auch entsprechend. Die Liebe oder der Haß, der Gehorsam oder die Rebellion, die er dem Therapeuten entgegenbringt, gelten nicht dem Arzt als Person. Der Therapeut wird vielmehr wie eine »leere Leinwand« behandelt, auf die der Patient die Bilder seiner Kindheit wirft (Projektion). In der klassischen analytischen Psychotherapie hält sich der Arzt denn auch als Person möglichst zurück, um dem Patienten viele verschiedene Übertragungen zu ermöglichen. Um die eigentliche Bedeutung dieser Verhaltensweisen zu verstehen, muß sich der Arzt hüten, dem Patienten starke eigene Gefühle entgegenzubringen, die geradesogut Wiederholungen aus seinen früheren Erlebnissen sein könnten: er muß die Neigung zur »Gegenübertragung« unter Kontrolle halten. Die oft stürmischen Regungen der Liebe während einer Psychotherapie sind eine Voraussetzung des Heilerfolges. Dem Arzt »zuliebe« gibt der Patient seine Geheimnisse preis, nimmt die Qualen der Selbsterkenntnis auf sich und folgt den Anweisungen. Nur in dieser Liebesbeziehung entsteht das Vertrauen zum Arzt. Dabei erweist sich oft genug die Ab stammung der Übertragungs-Liebe aus der sexuellen Libido. Der Anteil der Sexualität an den Gefühlen in der therapeutischen Übertragung entspricht zugleich der Bedeutung der sexuellen Konflikte für die Entstehung einer seelischen Krankheit (Hysterie, Neurose). In jeder Form der Psychotherapie spielt die Übertragung von Liebesgefühlen eine entscheidende Rolle, oft allerdings unerkannt und unkontrolliert. Während in der psychoanalytischen Kur neben der Übertragung sich ein heftiger Widerstand meldet, dessen Art dem Arzt wichtige Aufschlüsse über die tiefsten Konflikte des Patienten vermittelt, wird bei manchen anderen Heilverfahren die Übertragung so verstärkt, daß der Widerstand gleichsam überrollt wird. Nahezu total ist die Übertragung in der Hypnose. Der Heilerfolg, der in der Übertragung erzielt wird, würde nicht andauern, sobald der ehemalige Patient längere Zeit ohne Beziehung zum Arzt geblieben ist. Deshalb besteht der letzte, oft schwierigste Teil einer psychoanalytischen Kur darin, den Patienten aus der Übertragung zu lösen. Erst nach dieser Ablösung ist der ehemalige Patient fähig, seine neuen Probleme selbständig zu meistern. Doch was hier in der Psychotherapie geschieht, ist nur ein besonders deutliches Beispiel für wichtige und typische Vorgänge im täglichen Leben. Wahrscheinlich geht in jede Beziehung, die wir neu zu Menschen anknüpfen, eine Art Übertragung ein. Von Männern wird oft jeder ältere Mann, jeder Vorgesetzte, ja die Obrigkeit überhaupt, nach dem Verhältnis eingeschätzt, das sie als Knaben zum Vater hatten. Entweder beugen sie sich unter die Autorität immer wieder so, wie sie sich dem Vater untergeordnet haben, oder sie neigen ebenso wie einst stets aufs neue zur Rebellion. Die Ambivalenz im Verhältnis zum Vater mag sich in einer Mischung aus Liebe und Haß, aus Gehorsam und Auflehnung wiederholen. Da die Erfahrungen, die inzwischen gemacht worden sind, zum Beispiel im Verhältnis zum Lehrer oder Lehrherrn, bereits von den Erwartungen und Haltungen in der ursprünglichen Vater-Sohn-Beziehung eingefärbt waren, haben sich diese Muster vertieft. So gehen auch sie in spätere Übertragungen ein, wenn in einem neuen Verhältnis nur irgendetwas an das Muster erinnert. Die Beziehung der meisten Männer zu Frauen wird von einer Übertragung der Gefühle bestimmt, die die Knaben einst zur Mutter hatten. Die Beziehung eines Bruders zur Schwester ist oft schon von diesem Verhältnis abgeleitet. Andere Kindheitsmuster, etwa Erfahrungen mit weiblichem Hauspersonal, mit Gespielinnen aus der Nachbarschaft usw., vertiefen und modifizieren diese persönlichen Muster der Geschlechter-Beziehung. Ähnliches gilt entsprechend für die Entwicklung des Mädchens zur Frau. Von der Übertragung wird jede Liebeswahl mitbestimmt, am deutlich sten bei der »Liebe auf den ersten Blick«, die so völlig unerklärlich zu sein scheint, eben weil sie auf einem unbewußten Vergleich mit einer früheren Liebe beruht. In jeder Liebe, jeder Freundschaft, wohl sogar jeder Sympathie »kommt erste Lieb und Freundschaft mit herauf« (Goethe). Freilich wird nicht nur Liebe übertragen, sondern auch ihr Gegenbild, der Haß, und in diesem Widerspiegel auch ein alter Konflikt. Zu lösen ist er nur, wenn man ihn sich bewußt macht. Erst dann kann man die neuen Partner so erkennen, wie sie wirklich sind, statt nach dem Imago, das sich aus früheren Erfahrungen erhalten hat.Nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch im Alltagsleben sehr häufiger und wichtiger Vorgang, bei dem unbewußte Einstellungen, Gefühle und Wünsche nicht als ein Stück der Kindheit erinnert, sondern als wirkliches Erleben im Kontakt zu einem anderen Menschen wiederholt werden. Im normalen Leben wird die Übertragung nicht erkannt, sondern als Teil der Persönlichkeit des Betroffenen hingenommen und beantwortet. Ein junger Mann, der immer wieder aus nichtigen Anlässen Streit mit Vorgesetzten sucht und deshalb häufig die Stellung wechseln muß, gilt eben als aufsässiger Bursche, nicht als Neurotiker, der an einer unbewältigten Vaterbeziehung leidet und diese auf alle übrigen Autoritätspersonen überträgt. In der Psychotherapie kann dieselbe Haltung weit eher bearbeitet werden, weil der Therapeut in der Regel nicht auf die Übertragung reagiert, sondern sie analysiert und als Übertragung deutlich macht (Gegenübertragung). Alle Gefühlseinstellungen und Triebwünsche, die in der Kindheit den wichtigen Bezugspersonen galten, können im Erwachsenen-lebenübertragenwerden-zärtlicheund aggressive Neigungen, Verwöhnungsund Geborgenheitswünsche ebenso wie der Wunsch nach Distanz und Bin-dungslosigkeit (wenn diese Haltung in der Primärgruppe das seelische Überleben des Kindes erleichterte). Übertragungist somit eine Sonderform sozialen Lernens, bei der der primäre Lernvorgang ebenso wie die spätere Äußerung (Reproduktion) des Gelernten weitgehend unbewußt bleiben.
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