Vertrauen ist die Überzeugung, daß man sich auf den Schutz seiner Mitmenschen oder auch auf die eigene Stärke und die Gunst des Schicksals verlassen kann. Der amerikanische Psychoanalytiker E. H. Erikson spricht vom »Urvertrauen«, das ein Kind bereits in den ersten Lebensmonaten erwirbt. Es hängt ebenso wie die weitere Entwicklung von dem Maß der Liebeszuwendung und Anerkennung ab, das ein Mensch erfährt. Wenn das Vertrauen nicht entstehen kann oder enttäuscht wird, ist es späterhin schwierig oder sogar unmöglich, neue Beziehungen einzugehen. Der eigene Wert wird bezweifelt. Das Verhältnis zwischen Vertrauen und Mißtrauen richtet sich nach der Summe der Erfahrungen, die man mit der Liebe und dem Schutz der anderen wie mit der eigenen Stärke gemacht hat. Freilich gehen in spätere Erfahrungen immer schon die Erwartungen ein, die sich aus früheren Erlebnissen ergaben. Wer unsicher geworden ist, handelt unsicher; wer auf sein Glück vertraut, mag es dadurch begünstigen. Viele Menschen stellen ihr Vertrauen immer neu (etwa als Abenteurer) auf die Probe. Andere finden es nur in dem Glauben an eine überirdische Vorsehung. Grabbe wußte seinen Helden Hannibal nur noch mit der Erkenntnis zu trösten: "Ja, aus der Welt können wir nicht fallen. Wir sind einmal darin."
Vertrauen ist zumeist ein alltagssprachlicher Begriff, der inzwischen praktisch sämtliche Lebensbereiche durchdringt. Er wird zunehmend in unterschiedlichen Handlungskontexten (Familie, Schule, Medien, Arbeitswelt, Wirtschafts- und Finanzsysteme, Politik), Akteurs- und Beziehungskonstellationen (Selbstvertrauen, Vertrauen in dyadische Interaktionen wie Freundschaften und Partnerschaften, Gruppenprozesse, intra- und transorganisationale Beziehungen, soziale Netzwerke, virtuelle Organisationen) sowie für verschiedendste Artefakte (Geld, Gesetze, Informationen, Normen, Verträge, Medien, Technologien) zum Thema.
In der Psychologie führte der Begriff lange ein eher randständiges Dasein. So liegt im deutschsprachigen Raum nur eine Monographie zum Thema vor (Petermann, 1985). In neuester Zeit hat das Thema eine Renaissance erfahren (Schweer, 1997). Die psychologische Literatur zeigt inzwischen eine große Varianz der gewählten Zugänge auf, je nach anwendungsbezogenen Schwerpunktsetzungen, dem jeweiligen Menschenbild und der Differenzierung zwischen Vertrauen als Persönlichkeits-, Situations-, Beziehungs- oder Prozeßvariable. Ausgehend von den verschiedenen Definitionen von Vertrauen im Kontext der Psychologie ergeben sich einige interessante Gemeinsamkeiten. Vertrauen ist zukunftsbezogen und beruht zugleich auf Erfahrungen in der Vergangenheit. Vertrauen hat mit Vagheit und eingeschränkter Antizipierbarkeit der Praxis und des Verhaltens des anderen zu tun. Vertrauen beinhaltet durch den Verzicht auf Kontrolle individuelle Verletzbarkeit und erweitert durch Reduktion von Komplexität individuelle Handlungsmöglichkeiten. Vertrauen ist ein Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen: Jemand, dem alle relevanten Umstände seines Handelns bekannt sind, braucht nicht zu vertrauen, während jemand, der nichts weiß, nicht vertrauen kann. Vertrauen impliziert eine risikoreiche Wahl, wobei das Risiko darin liegt, bei enttäuschtem Vertrauen persönlich negative Konsequenzen tragen zu müssen.
Theoretische Ansätze
1) In der psychoanalytischen Traditon hat sich vor allem Erikson (1953) mit den entwicklungspsychologisch relevanten Aspekten von Vertrauen beschäftigt. Erikson sieht die Form der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung als Grundlage für die Herausbildung von Ur-Vertrauen und damit als Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung an. Versagungen, Drohungen und das Erleben von Unzuverlässigkeit verhindern den Aufbau von Vertrauen. Das gewonnene (Ur-) Vertrauen versus (Ur-) Mißtrauen bleibt für die gesamte Lebensspanne bedeutsam, wobei mangelndes Ur-Vertrauen eine Ursache für neurotische Entwicklungen der Persönlichkeit darstellt. Daher kann dem Konzept des Ur-Vertrauens auch eine heuristische Funktion in therapeutischen Kontexten zukommen. Im psychoanalytischen Paradigma wird der Begriff Vertrauen an die Entwicklungsdynamik des Unbewußten geknüpft. Diese kognitiv nicht mehr direkt zugänglichen Erfahrungen können im analytischen Diskurs rekonstruktiv bearbeitet werden.
2) Ein zentrales Paradigma innerhalb der Sozialpsychologie sind die auf spieltheoretische Überlegungen zurückgehenden Erwartungs x Wert-Modelle (Motivation) zur Erklärung von Vertrauen. Den experimentell-methodischen Zugang stellte (v.a. in den 50er und 60er Jahren) das sogenannte Gefangenendilemma dar.
3) Im Kontext der Sozialen Lerntheorie der Persönlichkeit wird Vertrauen von Rotter (1967) als die Erwartung einer Person gefaßt, sich auf die Aussagen anderer Individuen oder Gruppen verlassen zu können. Dabei wird zwischen generalisiertem und spezifischem Vertrauen unterschieden. Spezifisches Vertrauen bezieht sich auf Erfahrungen mit konkreten Situationen oder Personen, während generalisiertes Vertrauen sich über die Zeit aufbaut, indem Erfahrungen in verschiedenen Kontexten sich zu verallgemeinerten Erwartungshaltungen in bezug auf die Vertrauenswürdigkeit von Personen oder Sachverhalten aggregieren. Dem generalisierten Vertrauen kommt als einer über die Lebensbereiche erlernten verallgemeinerten Erwartungshaltung besonders in neuartigen und wenig strukturierten Situationen handlungsrelevante Bedeutung zu. Die Ausbildung des generalisierten Vertrauens wird als eine erlernte, zeitstabile Persönlichkeitsvariable beschrieben, die sich durch neue Lernerfahrungen verändern kann.
4) Austauschtheoretische Ansätze in der Psychologie fokussieren Vertrauen als Beziehungsvariable in der Interaktion. Es wird wie schon im Paradigma des Gefangenendilemmas eine enge Beziehung zwischen der Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit des Spielpartners und dem eigenen vertrauensvollen Verhalten gesehen. Die Funktion des symbolischen Austauschs steht hier als wechselseitige ausdrucksorientierte Geste im Mittelpunkt, wobei die Bedeutung der ausgetauschten Güter nicht in ihrem primären Nutzwert liegt, sondern in der mit der Geste transportierten Haltung oder Intention. Dieser Ansatz interessiert sich für sozial codierte Gesten, die Vertrauenswürdigkeit signalisieren und deren Bedeutung situational wie kulturell variieren kann.
5) Dem funktionalistischen Ansatz von Luhmann (1973) zufolge kommt Vertrauen durch ein Überziehen vorhandener Informationen zustande und dient der Reduktion von Komplexität. Vertrauen wird hier als allgemein unhintergehbare Moderatorvariable der Mensch-Umwelt-Beziehung konzipiert: Der Mensch als informationsverarbeitendes Wesen kann nur handlungsfähig werden, wenn es ihm gelingt, angemessene Formen der Informationsreduktion zu entwickeln. Dies geschieht, indem äußere Unsicherheiten durch systeminterne Reduktionsmechanismen ersetzt werden. Damit ist Vertrauen zwar immer eine risikoreiche Vorleistung, da es auch Kontrollverzicht bedeutet und zu Enttäuschungen führen kann. Dem steht allerdings gegenüber, daß eine Ausweitung von Vertrauen auch eine Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten bedeutet. Luhmann hat mit seiner Differenzierung zwischen Vertrauen und Zutrauen bzw. Systemvertrauen eine auch psychologisch relevante Unterscheidung vorgenommen. Interpersonales Vertrauen beruht auf persönlichen Erfahrungen in der Interaktion. Systemvertrauen hingegen repräsentiert ein Zutrauen in die Verläßlichkeit historisch entwickelter sozialer Interaktionsmuster und Konventionen; es stabilisiert den sozialen Zusammenhalt in komplexen Systemen.
Forschung
In der empirischen Forschung sind vor allem zwei klassisch-nomothetische Forschungsmethoden gewählt worden: der Einsatz von Fragebögen zum interindividuellen Vergleich von Vertrauensmaßen und die Variation von Verhaltensbedingungen in experimentell kontrollierten Laborstudien (Experiment). Darüber hinaus finden sich vereinzelt phänomenanalytische Zugänge, in denen über Interviewverfahren subjektive Konstruktionsweisen von Vertrauen erhoben werden. Neben solchen idiographischen Verfahren, die an der Struktur der individuellen Bedeutungssetzung von Vertrauen interessiert sind, lassen sich noch Ansätze finden, die Vertrauen als eine Prozeßvariable betrachten und in konkreten lebensweltlichen Kontexten als Bewältigungsmechanismus komplexer Alltagsanforderungen untersuchen. In der anwendungsorientierten Forschung ist die Untersuchung von Entstehung, Dynamik, Stabilisierung und Entwicklung von Vertrauensbeziehungen erst seit den 80er Jahren verstärkt zu einem Thema geworden, das jedoch in zunehmendem Maße an Bedeutung gewinnt.
Ein Schwerpunkt der Vertrauensforschung im klinisch -psychologischen Kontext beschäftigt sich mit der Rolle des interpersonalen Vertrauens in der Arzt-Patient-Beziehung und der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Klient. Hervorgehoben werden hier die Bedeutung der wechselseitigen Vorannahmen und Erwartungen, die Initiierung der Beziehung im Erstkontakt, Zusammenhänge zwischen Vertrauen und dem Erfolg der Maßnahmen sowie vertrauensfördernde Faktoren in der Interaktion. Vertrauen in Partnerschaften und Liebesbeziehungen (Liebe) stellt ein weiteres Forschungsfeld dar. Ausgehend von der Feststellung, daß der Aufbau einer intimen Beziehung Vertrauen voraussetzt, werden Bindungsstile, Unsicherheitsorientierungen oder Kontrollerwartungen untersucht.
Pädagogische Beziehungen werden daraufhin hinterfragt, wie zwischen Lehrenden und Lernenden Vertrauen entsteht und welche Chancen und Gefahren mit der Perspektive verbunden sind, den Aufbau von Vertrauen zu einem wichtigen pädagogischen Imperativ zu erheben (Pädagogische Psychologie).
Im makro-gesellschaftlichen Kontext werden Tendenzen und Entwicklungen im Vertrauen zu Technologien, Medien sowie politischen Institutionen und deren Repräsentanten untersucht.
In der Arbeits- und Organisationspsychologie ist Vertrauen ebenfalls zu einem bedeutsamen Topos geworden. Es wurden Fragebögen wie das Organizational Trust Inventory entwickelt, in denen Organisationsmitglieder als Mitglieder einer Abteilung die Vertrauenswürdigkeit anderer Abteilungen hinsichtlich affektiver, kognitiver und verhaltensbezogener Aspekte einzuschätzen haben.
Ausblick
Dem Vertrauensbegriff kam nicht immer der aktuelle Stellenwert zu. Der psychologische Vertrauensdiskurs sollte daher auch gesellschaftliche Veränderungsprozesse reflektieren, vor deren Hintergrund der Bedeutungsaufschwung des Themas zu verstehen ist. Ist Vertrauen in nicht-modernen Gesellschaften noch eng mit Vertrautheit verbunden und auf die unmittelbaren Sozialbeziehungen bezogen, so läßt sich die Moderne durch eine Trennung von Vertrauen und Vertrautheit kennzeichnen. Die Moderne hat nicht nur die Gewißheiten des Glaubens untergraben, die soziale Einbettung des Menschen aus traditionalen gesellschaftlichen Formen gelöst, Sozial- und Systemintegration zunehmend auseinanderfallen lassen, sie wird auch reflexiv in bezug auf Wissenschaft und Expertentum. Diese Entwicklung zeigt sich in einer Institutionalisierung des Zweifels in Form von Vertrauens- und Mißtrauensagenturen (Verbraucherverbände, Investmentfonds, Schufa, Zertifizierungssysteme etc.). Die Moderne erkennt die Vorläufigkeit ihrer Konventionen, ihres Wissens, ihrer Sicherheiten. Vertrauen gilt nicht mehr allein dem Vertrauten und Stabilisierten, sondern wird in viel stärkerem Maße gegenüber Unbekanntem, Fremdem und Temporärem relevant. So zeigt sich in der Arbeitswelt z.B. vor dem Hintergrund zunehmender Flexibilisierung und Virtualisierung von Arbeitsbeziehungen in der Telearbeit eine immer stärkere Tendenz zur Bildung von ad-hoc-Teams. Die spezifische Form des für derartige Formen der Arbeitsorganisation erforderlichen Vertrauens wurde bereits mit dem Begriff swift trust belegt. Inwieweit derart eiliges und geschwind(end)es Vertrauen sich auf individueller wie organisationaler Ebene als nachhaltig tragfähig erweisen wird, steht zur Disposition. Entsteht Vertrauen durch ein Überziehen vorhandener Informationen, so kann, analog gesprochen, ein rein affirmativer Vertrauensdiskurs selbst der Gefahr unterliegen, den Stellenwert von Vertrauen theoretisch wie praktisch zu überziehen und zu viel Vertrauen in Vertrauen zu setzen. Daher bedarf es weiterer theoretischer Anstrengungen wie empirischer Forschung, in denen der Vertrauensbegriff im lebensweltlichen Kontext untersucht und mit Konzepten wie Macht, Konflikt, Autonomie und Kontrolle verbunden wird.
Literatur
Erikson, E.H. (1953). Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit. Stuttgart: Klett.
Luhmann, N. (1989). Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart: Enke
Petermann, F. (1985). Psychologie des Vertrauens. Göttingen: Hogrefe.
Rotter, J.B. (1967). A new scale for the measurement of interpersonal trust. American Psychologist, 35, 1-7.
Schweer, M. (1997). Vertrauen und soziales Handeln. Neuwied: Luchterhand.
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