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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

soziale Netzwerke

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

ein Konzept, das sich innerhalb weniger Jahre in so unterschiedlichen disziplinären Revieren wie Klinischer Psychologie, Gemeindepsychologie, Gesundheitswissenschaften, Stadtsoziologie, Organisations- oder Kommunikationsforschung einen prominenten Status erobert hat. Es eint das Interesse an dem Geflecht sozialer Beziehungen zwischen Personen und Personen, Menschen und Institutionen und Institutionen und Institutionen. Die Netzwerkmetapher liefert das Bild einer Figuration von sozial verknüpften Elementen, in dem die Knoten jeweils die Untersuchungseinheit (Personen, Gruppen oder Institutionen) darstellen, während die Linien die Beziehungen zwischen ihnen symbolisieren. In der Regel werden soziale Netzwerke von einer spezifischen Person ausgehend dargestellt (das sind die individuumzentrierten sozialen Netzwerke ). Aufgenommen werden nicht nur durch das Individuum direkt realisierte Beziehungen und Kontakte, sondern auch solche, die potentiell über Personen herstellbar sind, zu denen man in Kontakt steht.

In der Regel beschränken sich die erhobenen Netzwerkmuster auf Beziehungen, die durch Primärgruppen und die wichtigsten Alltagssektoren (wie Nachbarschaft, Arbeitswelt, Freizeit) gebildet werden. Häufig werden soziale Netzwerke auch unter spezifischen Handlungszielvorgaben rekonstruiert. Das am meisten thematisierte ist das Unterstützungsnetzwerk (Selbsthilfe), aber auch kommunale Machtstrukturen oder Kommunikationsmuster werden in Gestalt von Netzwerken abgebildet (Macht, Kommunikation). Beim Vergleich der visuellen Gestalt unterschiedIicher Netzwerke sind typische Konfigurationen identifizierbar, die zur dimensionalen Charakterisierung sozialer Netzwerke verwendet werden. Werden gegebene Beziehungsmuster zur Bewältigung ganz unterschiedlicher Ziele und Angelegenheiten genutzt, wird ein soziales Netzwerk als multiplex bezeichnet. Haben die Personen, zu denen ein Individuum Beziehungen pflegt, auch untereinander Kontakt, so läßt sich diese Beziehungsgestalt auf der Dimension Dichte abbilden. Ein Netzwerk wird als segmentiert bezeichnet, wenn sich Kontakte, die in spezifischen Lebens-bereichen (z.B. in der Berufswelt oder in der Freizeit) bestehen, kaum überschneiden. Diese formalen Struktureigenschaften soziale Netzwerke haben besondere Aufmerksamkeit bei graphentheoretisch arbeitenden Sozialwissenschaftlern gefunden (Soziometrie). Die spezielle Eignung der formalisierbaren Netzwerkmerkmale zur Weiterverarbeitung durch methodisch komplexe Verfahren hat dem Netzwerkkonzept in spezifischen sozialwissenschaftlichen Szenen zweifellos das Interesse gesichert. Andere Gründe sind in der Brückenfunktion zu sehen, die dieses Konzept zwischen unterschiedlichen Sozialwissenschaften übernehmen kann. In der traditionellen fachlichen Arbeitsteilung zwischen Psychologie und Soziologie etwa ist ein spezifisches Vermittlungsdefizit zwischen der individuellen und der makrogesellschaftlichen Ebene entstanden. Mit dem Konzept der sozialen Netzwerke hat in die Forschung eine "mezzo-soziale" Größe Eingang gefunden, die die oft sehr vage konzeptualisierten Umweltressourcen für die Bewältigung alltäglicher Krisen und Belastungen relativ präzise zu erfassen vermag.

Die Netzwerkforschung hat ihre Konjunktur wohl vor allem der Tatsache zu verdanken, daß tradierte soziale Bezüge in einer sich dramatisch wandelnden Gesellschaft aufgebrochen werden und sich auf diesen Prozeß besorgte Fragen nach wachsender Isolation der Individuen richten. Die Netzwerkforschung ermöglicht einen Blick auf zentrale Veränderungsprozesse alltäglicher sozialer Beziehungen. Eindeutig ist der Erosionsprozeß traditioneller raum-zeitlich stabiler Beziehungsmuster wie Verwandtschaft oder Nachbarschaft, über die ein Individuum als verläßliches ”soziales Kapital” verfügen kann. Das heißt nun aber keineswegs, daß das moderne Individuum sozial vereinsamt wäre. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Zeitgenössische Subjekte verfügen im Durchschnitt über vielfältigere Kontakte zu Freunden, Arbeitskollegen oder anderen Angehörigen spezifischer Vereine und Subkulturen als ihre Vorläufer-Generationen. Das ist ja auch kein Widerspruch zur Zunahme der Single-Lebensform. Die entscheidenden Merkmale dieser neuen Beziehungsmuster sind ihre "strukturelle Offenheit", die lockere Verknüpfung und die "Wahlfreiheit" (in der sozialpsychologischen Stadtforschung taucht in diesem Zusammenhang das Konzept von der "befreiten Gemeinschaft" auf). Gegenüber traditionellen Gesellschaften hat sich die Entscheidungsfreiheit in bezug auf die gewählten Beziehungen, aber auch die Entscheidungsnotwendigkeit in der Moderne qualitativ verändert. Das ist eine durchaus ambivalente Situation. Sie eröffnet einerseits die Chance, den ei-genen sozialen Lebenszusammenhang wesentlich mitzugestalten (entsprechend sind zeitgenössische soziale Netzwerke auch weniger von Statusmerkmalen als vielmehr von gemeinsamen Interessen bestimmt). Sie enthält aber auch die Notwendigkeit, Initiatior und Manager des eigenen Beziehungsnetzes zu sein. Diese strukturelle Notwendigkeit erfordert bei den Subjekten entsprechende Ressourcen an Beziehungsfähigkeit und auch materielle Ressourcen. Ein immer wieder nachgewiesener Befund zeigt, daß sozioökonomisch unterprivilegierte und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen offensichtlich besondere Defizite aufweisen bei dieser gesellschaftlich zunehmend geforderten eigeninitiativen Beziehungsarbeit.

Die Netzwerkforschung eignet sich als ein Forschungsinstrument vor allem zur Analyse von sich wandelnden Beziehungsmustern und dürfte nicht zuletzt deshalb immer wieder zum Einsatz kommen, weil sie eine Möglichkeit offeriert, soziale Ressourcen empirisch zu erfassen. Das ist in der Identitätsforschung genauso bedeutsam wie in der Bildungs- oder Sozialpolitikforschung. Das eher anspruchslose Konzept erweist sich durch die von ihm eröffnete Empirie als besonders wertvoll und ermöglicht in anpruchsvollen Theoriediskursen (wie dem Kommunitarismus) Realitätsbezüge.

Literatur

Röhrle, B. , Sommer, G. & Nestmann, F. (1997). Netzwerkintervention. Tübingen: dgvt.


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