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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Kommunitarismus

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

ist der philosophische Ausdruck einer affektiven Reaktion auf den Verlust stabiler Heimatbezüge und Verwurzelungen im Zuge der Individualisierung (Individualisierungsthese). Es geht im kommunitaristischen Diskurs wesentlich um die Frage, wie sich in invidualisierenden Gesellschaften jener "soziale Kitt" entwickeln soll, der die Basis für Solidarität oder den Zusammenhalt abgeben könnte. Als Verlust wird vor allem die teilweise schon eingetretene und weiter drohende Auflösung gemeinschaftlicher Wertbindungen thematisiert, die letztlich auch die Basis der individuellen Identitätsbildung (Identität) zerstören würde. Der Kommunitarismus fragt nach Gründen und Konsequenzen für die Erosion von Gemeinschaftsbezügen und versucht Kampagnen und Projekte zu initiieren, die soziales Kapital fördern sollen. In seinen Analysen beziehen Vertreter des Kommunitarismus in der Regel eine Gegenposition zum liberalistischen Menschenbild, dem sie ein sozial "ungebundenes Selbst" unterstellen. Dieses Menschenbild ginge davon aus, daß eine Gesellschaft dann am sinnvollsten aufgebaut wäre, wenn sie den einzelnen Individuen möglichst optimale Chancen der Verwirklichung ihrer Eigeninteressen einräumen würden. Kommunitaristen äußern berechtigte Zweifel, daß aus der Summe von Einzelinteressen so etwas wie die Idee von "Gemeinwohl" oder "Solidarität" entstehen könnte.

Die meiste Resonanz fand Amitai Etzioni in den USA und zunehmend auch in Europa mit seiner "kommunitaristischen Plattform". Der Königsweg zu einer kommunitären Verantwortungsgesellschaft führt für die Vertreter der Plattform vornehmlich über die tiefe Verinnerlichung von gemeinschaftsorientierten Werten und Verantwortlichkeiten. Deshalb sind die bevorzugten Orte der Förderung dieser Haltungen Familie und Schule. Die Verbindung kommunitaristischer Problemstellungen mit der empirischen Forschung hat zu einer entscheidenden Differenzierung der Fragestellungen geführt: 1) Die Netzwerkforschung (soziale Netzwerke) zeigt, daß auch in individualisierten Gesellschaften eine hohe Bereitschaft zur Alltagssolidarität besteht, die sich aber weitgehend auf die eigene Gruppe oder den eigenen "Stamm" konzentriert (Tribalismus wird das in der Politikwissenschaft genannt). 2) Es entwickeln sich neuartige gemeinschaftsbildende Muster (z.B. Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen, ökologische Projekte), die an die Stelle traditioneller Solidaritätsformen (wie Kirchen, Wohlfahrtsverbände oder Gewerkschaften) treten. 3) Erfolgreiche Identitätsbildung ist nicht zwingend an stabile und dauerhafte Gemeinschaftsformen gebunden, sondern kann aus dem Zugang zu multiplen sozialen Netzwerken die Ressourcen für eigenwillige multiple Identitäten gewinnen.

Literatur

Keupp, H. (Hrsg.). (1998). Der Mensch als soziales Wesen. München: Piper.


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