Statt einer Definition
Wie sieht guter Schulunterricht aus? Können Studierende ihr Wissen später im Beruf auch nutzen? Welche Möglichkeiten und Gefahren eröffnet der Computer für das Lernen? Wie kann man Studierende bei Lernschwierigkeiten beraten? Welche Auswirkungen auf Kinder haben Gewaltdarstellungen im Fernsehen? Wie kann man bei Kindern gesundheitsförderndes Verhalten stärken? Welche Bedeutung hat es, ob man Einzelkind ist oder Geschwister hat? Wie kann man Eltern bei Erziehungsschwierigkeiten beraten? Dies ist eine Auswahl von interessanten Fragen, mit denen sich die Pädagogische Psychologie befaßt. Typischerweise wird versucht, durch quantitativ-empirische Forschung und darauf aufbauende Formulierung von Theorien zu Antworten zu kommen. Die genannten Fragen stammen aus den zwei Hauptbereichen der Pädagogische Psychologie: Lehren und Lernen sowie Erziehung und Sozialisation. In der Forschung zum Lehren und Lernen (Weinert, 1996; 1997) wird eine Vielzahl von Themen aufgegriffen, die mit Bedingungen, Prozessen und Effekten des Lehrens und Lernens in Zusammenhang stehen: Individuelle Lernvoraussetzungen (z.B. Vorwissen, Lernmotivation), Lernprozesse (z.B. Lernstrategien), Unterscheidung von unterschiedlichen Lernzielen (z.B. verschiedene Wissensarten), Determinanten des Lernens (z.B. Design von Lernumgebungen), Möglichkeiten der Diagnose von Lernvoraussetzungen und Lernerfolg (z.B. Intelligenztests), Lernstörungen (z.B. Lese-Rechtschreib-Schwäche), Beratung (z.B. Schullaufbahnberatung), Evaluation von Unterrichtsversuchen, internationale Schulleistungsvergleiche u.v.a.m. Der Bereich des Lehrens und Lernens ist der Hauptschwerpunkt der Pädagogischen Psychologie. So waren gut die Hälfte der Beiträge auf den letzten Tagungen der Fachgruppe Pädagogische Psychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie diesem Bereich zuzuordnen.
Auf dem Gebiet der Erziehung und Sozialisation (Schneewind, 1994) geht es um die Persönlichkeitsentwicklung im Kontext der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt (Sozialisation). Der Erziehung kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Betrachtet man das Gesamt der Sozialisationsbedingungen, so kann man verschiedene Ebenen unterscheiden. Auf einer Mikroebene untersucht man vor allem Auswirkungen von (elterlicher) Erziehung und von Familienprozessen. Auf der Mesoebene geht es darum, wie sich verschiedene Mikrosysteme gegenseitig beeinflussen (z.B. Elternhaus und Schule). Als Exosysteme werden Kontexte in ihrer Wirkung untersucht, an denen das Kind zwar nicht selbst teilnimmt, die für dieses aber dennoch von Bedeutung sind (z.B. Arbeitsplatz der Eltern, Medien). Schließlich thematisiert man auf einer Makroebene den Einfluß der Kultur auf Sozialisationsprozesse (z.B. Kulturvergleiche). Neben den Analysen von Erziehungs- und Sozialisationseinflüssen sind auch darauf bezogene Interventionen Gegenstand der Forschung (z.B. Beratung). Mit Erziehung und Sozialisation beschäftigte sich auf den letzten Tagungen der Fachgruppe Pädagogische Psychologie grob ein Viertel der Beiträge. Daneben werden noch weitere Themen aufgegriffen, so z.B. Arbeitslosigkeit, Ausländerintegration, Hochbegabung, kindliches Spiel und Ökopsychologie. Schließlich: Bei etlichen forschungsmethodologischen und statistischen Entwicklungen waren Pädagogische Psychologen beteiligt, wie z.B. in der jüngsten Zeit bei der Entwicklung von mehrebenenanalytischen Verfahren, damit in Zusammenhang stehend, von Wachtumskurvenmodellen.
Befunde der Pädagogische Psychologie: eine Auswahl
1) Das wohl am besten abgesicherte Ergebnis ist, daß die stärkste Einzeldeterminante des Lernens das Vorwissen der Lernenden ist. Je mehr jemand über ein Sachgebiet weiß, um so leichter kann er dazulernen. Dies läßt sich u.a. damit erklären, daß gute Vorkenntnisse es erlauben, dem dargebotenen Stoff Bedeutung zuzuweisen und Anknüpfungspunkte für das Neue in der eigenen Wissensbasis zu finden.Vorwissen kann jedoch auch hinderlich sein. Wenn Konzepte den wissenschaftlichen Auffassungen widersprechen, dafür aber in der Alltagserfahrung verwurzelt sind, ist es sehr schwierig, diese zu verändern. So geben Kinder etwa das intuitive Konzept der flachen Erde deshalb so ungern auf, weil die Vorstellung einer runden Erde Ableitungen aus grundlegenden Theorien der Kinder widerspricht. Diese besagen, daß im Falle einer runden Erde Australier auf dem Kopf stehen und von der Erde fallen müßten. Es läßt sich festhalten, daß Vorwissen das Lernen zumeist stark erleichtert. Bisweilen behindern aber intuitive Vorstellungen den Wissenserwerb nachhaltig. Neben dem Vorwissen spielen natürlich noch weitere Lernermerkmale eine Rolle, wie etwa die Intelligenz, Interessen oder schulbezogenes Selbstkonzept (Selbstvertrauen). Zudem bestimmt die Qualität des Unterrichts den Lernerfolg. Dabei zeigt sich im übrigen, daß Kinder mit höherer Intelligenz und Vorwissen weniger durch Qualitätsdefizite des Unterrichts beeinträchtigt werden als diejenigen mit ungünstigen Lernvoraussetzungen (Aptitude-Treatment-Interaktion).
2) Die Antwort auf die Frage nach gutem Unterricht hängt insbesondere vom Lernziel ab. Beim Erwerb grundlegender Kenntnisse oder basaler Rechen- oder Lesefertigkeiten ist ein Unterricht günstig, der meist mit dem Begriff Direkte Instruktion belegt wird. Diese zeichnet sich durch eine starke Lehrersteuerung, ein kleinschrittiges Vorgehen mit vielen Übungs- und Rückmeldungsgelegenheiten und klare Struktur aus. Der Lehrer nimmt die Lernenden gewissermaßen an der Hand und induziert wichtige Lernprozesse.
3) Besteht das Ziel darin, den ein tieferes Verständnis von Konzepten (z.B. der Evolutionstheorie) zu vermitteln oder sollen intuitive Konzepte, wie etwa dasjenige der flachen Erde, verändert werden, erweist sich Direkte Instruktion als suboptimal. Hier sollten Kinder eine mental aktivere Rolle einnehmen. Durch die tiefe Auseinandersetzung mit komplexen Problemstellungen, durch Artikulation des eigenen Vorverständnisses, durch das Geben von Erklärungen oder Begründungen, durch Reflexion und Diskussion in kooperativen Kleingruppen, durch aktives (Nach-)Entdecken von Zusammenhängen und ähnliches mehr kann es hier zu produktiven Lernprozessen kommen. In den letzten Jahren wurden etliche instruktionale Modelle, in deren Rahmen sich die genannten Lernaktivitäten verwirklichen lassen, entworfen (z.B. Verankerte Instruktion). Diese sog. Modelle des situierten Lernens enthalten Komponenten, wie Projektunterricht, kooperatives Lernen, Lernen mit computerbasierten Simulationen usw. Das Hauptproblem ist dabei, daß die genannten Lehr-Lern-Formen mit geringerer Wahrscheinlichkeit zum Ziel führen als Direkte Instruktion im Falle des Erwerbs grundlegender Fertigkeiten. Dies liegt u.a. daran, daß Schüler, etwa wenn sie an komplexen Problemen lernen sollen, vielfach überfordert sind und deshalb kompetente Unterstützung brauchen. Diese zu leisten ist aber für die Lehrenden eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, für die sie in ihrer Ausbildung meist unzureichend vorbereitet wurden. An diesem Punkt besteht auch noch erheblicher Forschungsbedarf. Vielfach werden in empirischen Untersuchungen unter privilegierten Umständen (hoher Implementationsaufwand, hoch motivierte Lehrende usw.) neue instruktionale Modelle verwirklicht, die zu günstigen Effekten führen. Meist ergeben sich aber bei einer Einführung dieser Modelle auf breiter Basis und in der täglichen Unterrichtspraxis mannigfaltige Probleme. Notwendig ist eine profunde Implementationsforschung.
Pädagogische Psychologie: Für wen?
Die Rezipienten und damit die potentiellen Anwender der Pädagogischen Psychologie lassen sich grob in drei Gruppen aufteilen: Forscher außerhalb der Pädagogischen Psychologie, Studierende und Praktiker. a) Der Einfluß der Pädagogischen Psychologie auf die übrigen psychologischen Subdisziplinen ist, sieht man von einigen forschungsmethodischen Entwicklungen ab, gering. Als sog. Anwendungsfach greift die Pädagogische Psychologie hingegen häufig auf Konzepte der Entwicklungs-, der Sozial-, der Allgemeinen und der Differentiellen Psychologie zurück. Gleichwohl ist eine Charakterisierung der Pädagogischen Psychologie als (reines) Anwendungsfach insofern unzutreffend, als in dieser auch sehr viele grundlagenwissenschaftliche Untersuchungen zu Lern-, Erziehungs- und Sozialisationsprozessen durchgeführt werden. Am engsten ist die Pädagogische Psychologie mit der Empirischen Pädagogik verbunden, von der sie kaum zu unterscheiden ist. So ist auch das jährliche Treffen der American Educational Research Association die bedeutendste internationale Tagung sowohl für die Pädagogische Psychologie als auch für die Empirische Pädagogik. b) Die größte Anzahl der Studierenden, die sich mit Pädagogischer Psychologie auseinandersetzen, sind, sowohl national als auch international, Studierende der Lehrämter. Dies findet u.a. darin seinen Niederschlag, daß international viel verwendete Lehrbücher (z.B. Gage & Berliner, 1996) sich ganz auf Fragen des schulischen Lernens konzentrieren. Im Diplomstudiengang Psychologie ist die Pädagogische Psychologie ein verpflichtendes Anwendungsfach im Hauptstudium. Bei einem entsprechenden Studienangebot ist ein Fokus auf schulischem Lernen nicht zweckmäßig, da sich in diesem Bereich kaum Berufschancen ergeben. Schwerpunkte, wie etwa Erwachsenenbildung oder Lernen mit Neuen Medien, sind hier sinnvoller. c) Praktiker, die Befunde aus der Pädagogischen Psychologie anwenden, sind natürlich Schulpsychologen und Erziehungsberater. In den letzten Jahren findet Pädagogische Psychologie vermehrt auch in der Erwachsenenbildung Beachtung. Zum Teil erfolgen auch Kooperationen von entsprechenden Lehrstühlen mit Unternehmen oder Industrie- und Handelskammern, die in ihren Aus- und Weiterbildungskonzeptionen instruktionale Modelle aus der Pädagogischen Psychologie aufgreifen.
Aktuelle Trends
Für die Frage, wohin sich die Pädagogische Psychologie entwickeln wird, ist es aufschlußreich, sich die aktuellen Trends vor Augen zu führen. Exemplarisch sollen hier drei wichtige Entwicklungen angeführt werden. 1) Anwendungsorientierung. Bei der Beurteilung von Arbeiten gewinnt neben der forschungsmethodischen Qualität die praktische Relevanz zunehmend an Bedeutung. Dies steht u.a. mit der gesellschaftlichen Forderung in Verbindung, daß Wissenschaft und Praxis in stärkeren Austausch treten sollten. 2) Methodenvielfalt. Während bis vor wenigen Jahren bei der Bewertung von Forschung darauf geachtet wurde, daß die Kriterien einer quantitativ-empirischen Forschungsmethodik eingehalten wurden, werden nun in immer stärkerem Maße auch Arbeiten mit qualitativer Methodik geschätzt. Auch bei quantitativ-empirischen Arbeiten finden sich zunehmend ergänzende qualitative Auswertungen. Während einige Forscher darin eine Aufgabe wissenschaftlicher Standards sehen, bewerten andere diese Tendenz als Rücknahme einer aus der Zeit des Positivismus-Streits übrig gebliebenen Engstirnigkeit und als Bereicherung der Methodenvielfalt. 3) Aktuelle Themenbereiche: Erwachsenenbildung, Erwerb anwendbaren Wissens, Lernen mit Neuen Medien. So heterogen die genannten Themenbereiche auf den ersten Blick auch zu sein scheinen, sie hängen doch eng zusammen. In den letzten Jahren erfolgt eine vermehrte Zuwendung auf das Lernen im Erwachsenenalter (Weinert & Mandl, 1997). Dabei geht es typischerweise um den Erwerb von Wissen, das dann z.B. im Beruf eingesetzt werden soll. Damit rückt die Frage nach der Anwendbarkeit von Wissen, das in Schule, Universitäten und Aus- und Weiterbildungsangeboten erworben wird, in den Vordergrund. Da das erworbene Wissen oft nur unzureichend nutzbar ist (träges Wissen), wurden instruktionale Ansätze mit dem Ziel des Erwerbs anwendbaren Wissens entwickelt. Dabei spielt das Lernen mit Neuen Medien eine prominente Rolle.
Literatur
Gage, N. L., & Berliner, D. C. (1996). Pädagogische Psychologie (5. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Schneewind, K. A. (Hrsg.). (1994). Psychologie der Erziehung und Sozialisation (Band 1 der Serie Pädagogische Psychologie, Enzyklopädie der Psychologie). Göttingen: Hogrefe.
Weinert, F. E. (Hsrg.). (1996). Psychologie des Lernens und der Instruktion (Band 2 der Serie Pädagogische Psychologie, Enzyklopädie der Psychologie). Göttingen: Hogrefe.
Weinert, F. E. (Hsrg.). (1997). Psychologie des Unterrichts und der Schule (Band 3 der Serie Pädagogische Psychologie, Enzyklopädie der Psychologie). Göttingen: Hogrefe.
Weinert, F. E., & Mandl, H. (Hsrg.). (1996). Psychologie der Erwachsenenbildung (Band 4 der Serie Pädagogische Psychologie, Enzyklopädie der Psychologie). Göttingen: Hogrefe.
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