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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Arbeitslosigkeit

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer



Definitionen

Eine national und international verbindliche Definition von Arbeitslosigkeit bzw. Erwerbslosigkeit existiert nicht. Zur Bestimmung der offiziellen Arbeitslosigkeitquote werden üblicherweise die Zahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt registrierten Arbeitslosen und die Zahl der Erwerbstätigen ins Verhältnis gesetzt. Wegen der unterschiedlichen Abgrenzungskriterien für Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit weisen nationale und internationale Statistiken jedoch unterschiedliche Arbeitslosenquoten aus. Auch in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit bleibt der Arbeitsmarkt dynamisch; je nach strukturellen Bedingungen und konjunktureller Lage kann die Arbeitslosenquote zudem saisonal und regional beträchtlich schwanken Nicht registrierte, aber Arbeit suchende Personen im erwerbsfähigen Alter bilden die sog. Stille Reserve (nicht offiziell registrierte Arbeitslose). Aus psychologischer Sicht können all jene Personen als arbeitslos angesehen werden, die keine Stelle haben, aber gerne eine hätten. Bei dieser Betrachtung ist zusätzlich die Unterscheidung zwischen Kurzzeit- und Langzeitarbeitslosen und zwischen Arbeitslosen mit guten bzw. schlechten Wiederbeschäftigungschancen bedeutsam.

Im 20. Jahrhundert bilden die Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren und die Zeit seit Mitte der 70er Jahre die markantesten Phasen hoher Arbeitslosigkeit. Da Erwerbsarbeit für die meisten Menschen in den modernen Volkswirtschaften Grundlage ihrer Existenz ist, ist Arbeitslosigkeit immer auch ein sozialpsychologisch bedeutsamer gesellschaftlicher Sachverhalt, der sich im Falle von Lebensgemeinschaften auf ökonomisch abhängige Personen und mittelbar auch auf Beschäftigte (z.B. durch Arbeitsplatzunsicherheit; Zunahme beruflicher Transitionen) auswirkt. Die Folgen von Arbeitslosigkeit reichen so über die Gruppe der Arbeitslosen selbst hinaus ("Opfer-durch-Nähe" in der Arbeitslosigkeit).

Die Risiken, arbeitslos zu werden (Zugangsrisiko) bzw. arbeitslos zu bleiben (Verbleibsrisiko), sind unterschiedlich, multifaktoriell determiniert und sozial ungleich verteilt. Während das Zugangsrisiko z.B. branchen- und betriebsgrößenabhängig ist, wird das Verbleibsrisiko deutlich durch Individualmerkmale wie Alter, Qualifikation und Gesundheitszustand beeinflußt. Für Personen mit erhöhtem Verbleibsrisiko steigt die Gefahr, zu Langzeit- oder Dauerarbeitslosen zu werden.

Theoretische Konzepte

Die meisten der älteren Studien (Arbeitslosenforschung, psychologische) haben zwar einen klaren inhaltlichen, aber nur selten einen expliziten theoretischen Bezug. Schwerpunkte der Forschung lagen und liegen z.T. noch heute in der Beobachtung von Devianzerscheinungen (z.B. Selbstmordgefährdung, Alkoholkonsum), der Veränderung der körperlichen Verfassung (z.B. Gewichtsabnahme durch Mangelernährung, Krankheitsanfälligkeit), der Gefährdung der psychischen Gesundheit (z.B. Angst, Depressivität), der Bewältigung finanzieller Problemlagen und der Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen (z.B. Partnerschaftskonflikte, Betroffenheit von Kindern, sozialer Rückzug). In dieser Wirkungsforschung geht zentral um die mit dem Lebensereignis Arbeitslosigkeit verbundenen Risiken und Folgen (Abb.).

Erst in den 1980er Jahren begann eine z.T. lebhafte Auseinandersetzung um die theoretischen Grundlagen der Arbeitslosenforschung. Die aus den 30er Jahren überlieferten und später wieder aufgegriffenen Phasenmodelle der Verarbeitung von Arbeitslosigkeit (Schock, Optimismus, Pessimismus, Fatalismus) wurden einer breiten Kritik unterzogen, die sich insbesondere gegen die simplifizierende Annahme eines uniformen Verlaufs der Arbeitslosigkeitserfahrung richtete und darüber hinaus die sich verändernde Bedeutung von Erwerbsarbeit für die Identitätsbildung thematisierte (Wertewandel). Allgemeine Phasenmodelle gelten heute als empirisch und theoretisch überholt. Im Gegenkonzept der differentiellen Arbeitslosenforschung (Arbeitslosenforschung, differentielle) wird die Vielfalt der empirisch belegten Bewältigungsformen des Lebensereignisses "Arbeitslosigkeit" hervorgehoben. Mit dem differentiellen Konzept vereinbar sind die bereits in den 30er Jahren anzutreffenden typologischen Ordnungsmodelle, die Arbeitslosigkeit und Arbeitslose in unterschiedliche Segmente aufteilen und -- je nach Wirkung - Fallgruppen bilden (z.B. Ungebrochene, Resignierte, Verzweifelte, Apathische).

Neben manchen Phasenmodellen ist Jahodas Konzept der latenten psychosozialen Funktionen der Erwerbsarbeit das einzige arbeitslosenspezifische Konzept zur Erklärung von Arbeitslosigkeitseffekten. Andere für die Arbeitslosenforschung bedeutsame Konzepte wie z.B. das Stigmakonzept (Goffman), die Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman), oder auch das sog. Vitamin-Modell (Warr) stellen Übertragungen aus anderen Forschungsbereichen dar oder erheben - wie das Vitamin-Modell - den Anspruch, ein allgemeines Modell zur Repräsentation von Person-Umwelt-Interaktionen zu sein.

Unter den allgemeinen Erklärungsansätzen, die auf die Situation der Arbeitslosigkeit übertragen werden, nimmt die kognitive Stresstheorie eine besondere Rolle ein. Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit werden als kritisches Lebensereignis aufgefaßt, das die Bewältigungsressourcen eines Individuums bei der Arbeitsplatzsuche in besonderer Weise beansprucht (Streß).

Arbeitslosigkeit und Gesundheit

Gesundheitliche Folgen von Arbeitslosigkeit haben in den von Arbeitsmarktproblemen besonders betroffenen Ländern in den beiden letzten Jahrzehnten Eingang in die politische Debatte gefunden. In den USA unternahm der Kongreß 1979 den Versuch, die Auswirkungen eines Anstiegs der Arbeitslosenrate auf den Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung, z.B. hinsichtlich psychiatrischer Einweisungen, Suiziden sowie alkoholabhängiger Erkrankungen zu quantifizieren. Die zugrundeliegenden Studien haben einen wichtigen Anstoß für die Betrachtung der gesamtgesellschaftlichen Folgen von Arbeitslosigkeit geliefert. Unter methodischen Gesichtspunkten ("ökologischer Fehlschluß" von Gesamtbevölkerung auf Arbeitslose) sind diese sog. Makro-Studien allerdings inzwischen sehr umstritten.

Arbeitslosigkeit und Gesundheit sind vielfältig miteinander verknüpft: Gesundheitlich eingeschränkte und erwerbsgeminderte Arbeitnehmer sind u.a. aufgrund betrieblicher Entlassungs- und Einstellungspraktiken besonders betroffen. Sie tragen ein höheres Risiko entlassen zu werden, bleiben überdurchschnittlich lange arbeitslos und haben geringere Chancen der beruflichen Wiedereingliederung (Selektionseffekt). Sowohl der Verlust des Arbeitsplatzes als auch fortdauernde Arbeitslosigkeit selbst sind eigenständige Risikofaktoren, die gesundheitsbezogenes Verhalten negativ beeinflussen und Verstärkung sowie Entstehung gesundheitlicher Probleme, sowohl psychosozialer als auch physischer Art, bewirken können (Kausaleffekt).

Die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit ist mit folgenden Schwierigkeiten konfrontiert: Es gibt generell nur wenige Krankheiten, bei denen ein einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nachgewiesen werden kann (wie z.B. Infektionskrankheiten oder Vergiftungen); i.d.R. muß man sich mit Wahrscheinlichkeitsaussagen zufriedengeben. Beim Vergleich des Gesundheitszustandes von Beschäftigten und Arbeitslosen müssen Selektionseffekte (Menschen mit schlechterem Gesundheitszustand werden eher oder bleiben länger arbeitslos) von Sozialisationseffekten (Arbeitslosigkeit führt zu gesundheitlichen Belastungen und Schädigungen) getrennt werden.

Der mit Arbeitsplatzverlust und andauernder Arbeitslosigkeit verbundene psychosoziale Streß setzt auf unterschiedlichen Ebenen an:

1) Die mit der Arbeitstätigkeit verbundenen Momente von ökonomischer Sicherheit, sozialer Einbindung, Selbstwertgefühl, Zeitstrukturierung sowie externen Anforderungen schwächen sich ab oder gehen verloren (primäre Viktimisierung).

2) Erfahrungen von Alltagsproblemen wie finanziellen Sorgen, Zukunftsunsicherheit und sozialer Stigmatisierung führen zu einer Verstärkung von Belastungen (sekundäre Viktimisierung).

3) Sozial als unangemessen angesehene Formen der Bewältigung werden den Betroffenen selbst angelastet (tertiäre Viktimisierung):

- zum einen jenen Menschen, die aufgrund des Mangels an persönlichen und sozialen Ressourcen mit ihrer Situation nur sehr unzureichend fertig werden und gravierende psychosoziale Probleme aufweisen;

- zum anderen jenen positiven Bewältigern der Arbeitslosigkeit, die "zu gut" mit der Situation fertig werden, und denen deshalb Selbstverschulden und Mißbrauch des sozialen Sicherungssystems vorgeworfen wird.

Psychische Beeinträchtigungen treten besonders in der Anfangsphase häufiger auf als manifeste körperliche Symptome, die sich ja erst nach einer gewissen Zeit herausbilden. In zahlreichen Untersuchungen finden sich hinsichtlich der psychischen Gesundheit drastische Unterschiede zwischen Arbeitslosen und vergleichbaren Gruppen Beschäftigter: Depressive Verstimmungen, Unzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation, Ängstlichkeit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, verringertes Selbstwertgefühl, Resignation bis hin zu Apathie. Geringes Aktivitätsniveau, soziale Isolation sowie Einsamkeit repräsentieren wichtige Symptome einer schlechteren psychischen Gesundheit von Arbeitslosen.

Die Verschlechterung bei körperlichen Beschwerden zeigt sich hinsichtlich psychosomatischer Aspekte von Gesundheit und im Bereich jener Faktoren, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Die Auswirkung auf physiologische Indikatoren, welche die psychosomatische Morbidität beeinflussen (Blutdruck, Katecholamin- und Cholesterinspiegel, Immunsystem) wurde in mehreren Ländern nachgewiesen.

Insbesondere andauernde Arbeitslosigkeit hat einen schädlichen Effekt auf die psychische und physische Gesundheit und zwar besonders in Verbindung mit finanziellen und anderen psychosozialen Belastungen. Nahezu jeder dritte Langzeitarbeitslose in Deutschland geht davon aus, daß sich seine gesundheitlichen Probleme infolge der Arbeitslosigkeit vergrößert haben oder erst durch sie entstanden sind.

Interventionen bei Arbeitslosen

Seit Beginn der Verschärfung der Arbeitsmarktkrise der 80er Jahre hat es intensive Bemühungen gegeben, durch Interventionsmaßnahmen eine Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Primäres Ziel ist die Verbesserung der individuellen Beschäftigungschancen (Einstieg oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt); ergänzend wird jedoch auch eine Verbesserung der psychosozialen Befindlichkeit Arbeitsloser angestrebt.

Die in verschiedenen Evaluationsstudien für Interventionsmaßnahmen ermittelten Übergangsraten in Beschäftigung lassen sich nur bedingt miteinander vergleichen, ihre arbeitsmarktbezogenen Erfolge sind nicht nur von der Qualität der Intervention, sondern gleichfalls von rechtlichen, arbeitsmarkt- oder teilnehmerspezifischen Faktoren abhängig. Übergangsraten in Deutschland zwischen 12 und 40% der Teilnehmer stehen deutlich höhere Raten in den USA zwischen 60 und 90% gegenüber. Hinsichtlich einer psychosozialen Stabilisierung durch Interventionen und damit auch der mittelfristigen Verbesserung der Wiederbeschäftigungschancen läßt sich bei Teilnehmern eine deutliche Verbesserung der psychischen Gesundheit (Verringerung von Depressivitätswerten, höhere Selbstwirksamkeit), eine Verstärkung der Motivation zur Arbeitssuche und die Aktivierung sozialer Unterstützung aufweisen. Erfolgreich sind vorrangig Maßnahmen, bei denen Elemente von Beschäftigung, Qualifizierung und Sozialbetreuung in engem Bezug auf die industrielle Realität (z.B. in Betriebspraktika) integriert sind. Psychosoziale Stabilisierung läßt sich jedoch oft nur während der Maßnahmeteilnahme selbst feststellen; sie geht bei einem späteren Verbleib in der Arbeitslosigkeit eher wieder verloren.

Im Vergleich zu Interventionen führt Wiederbeschäftigung, insbesondere wenn sie stabil ist, trotz der anfänglich neuen beruflichen Anforderungen, zu z.T. drastischen psychosozialen Belastungsverringerungen bei depressiven Beschwerden, negativen Alltagsstimmungen, Ängstlichkeit und Gefühlen von Einsamkeit.

Literatur

Jahoda, M. (1983). Wieviel Arbeit braucht der Mensch?. Weinheim/Basel: Beltz.

Kieselbach, T. & Wacker, Arbeitslosigkeit (Hrsg.). (1995). Bewältigung von Arbeitslosigkeit im sozialen Kontext. Programme, Initiativen, Evaluationen (2. Aufl.). Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Kates, N., Greif, B. S. & Hagen, D. Q. (1990). The psychosocial impact of job loss. Washington: American Psychiatric Press.

Klein, G. & Strasser, H. (Hrsg.). (1997). Schwer vermittelbar. Zur Theorie und Empirie der Langzeitarbeitslosigkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Winefield, H. (1995). Unemployment: its psychological costs. In C. L. Cooper & I. T. Robertson (Eds.), International Review of Industrial and Organizational Psychology (Vol. 10, pp. 169-212). Chichester: Wiley.

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