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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Streß

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

starke körperliche oder seelische Belastung, besonders wenn sie lange andauert oder sich häufig wiederholt. Solche gesteigerten Anforderungen werden gestellt hinsichtlich beruflicher Leistung oder sonst im Wettbewerb, durch Krankheit und jede andere Art Krisis, durch krassen Wandel der Lebenssituation, aber auch durch ständige äußere Unruhe, durch Lärm oder andere Reizüberflutung. In Streß-Situationen werden zunächst zusätzliche Kräfte mobilisiert, nämlich vermehrt Hormone ausgeschüttet. Die so gesteigerte Spannung wird sogar als angenehm, als belebender Reiz empfunden. Aber die Spannung müßte alsbald auch wieder abgebaut werden. Der Erwartung müßte eine Befriedigung folgen. Krank macht der Streß, wenn er zu Frustrationen (Enttäuschungen) führt, oder aber wenn er nicht nachläßt bzw. immer wieder eintritt, ehe auf die vorige Anspannung eine Zeit der Ruhe und Erholung gefolgt ist. Ständiger Streß führt zu einer Anpassung (Adaption), die in drei Phasen verläuft: Auf die Alarmreaktion folgen Widerstandsversuche, am Ende aber überschießende Aktivität oder Erschöpfung. Viele psychosomatische Krankheiten sind Streß-bedingt. Das Zeitsymptom Streß ist aber nicht allein von den Anforderungen zu äußerer Leistung und von der Belastung durch äußere Reize her zu verstehen, sondern mindestens ebensosehr aus den Erfahrungen der inneren Enttäuschung und dem Mangel an Befriedigung und Befriedung.Körperliche und seelische Reaktion auf äußere oder innere Reize, die als anregend oder belastend empfunden werden. Ein einfaches Beispiel: Die trockene Hitze der Sauna ist zweifellos ein Streß für unseren Organismus. Zehn Minuten oder eine Viertelstunde lang wird sie als wohltuend und anregend empfunden. Wenn jemand aber zwei Stunden in der Sauna ausharren müßte, kann sein Kreislauf unter dieser Belastung zusammenbrechen. Den Zustand, in dem belastende Reize als angenehm empfunden werden, nennt man Eustress; den Zustand der Überlastung Distress. Körperliche Streß-Reize oder Stressoren sind etwa Hitze, Kälte, Infektionen, Hunger, Vergiftungen, Verletzungen. Seelische Stressoren sind viel zahlreicher, zum Beispiel Leben in einer schlechten Ehe, Prüfungsangst, berufliche Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit, der Tod Angehöriger. Der Mensch verfügt über körperliche wie seelische Reserven, die er in solchen Streß-Situationen einsetzen kann, um sein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Sind diese Reserven erschöpft, kann es zu einem plötzlichen Zusammenbruch kommen.

Streß gehört zu den populärsten und zugleich schillerndsten Begriffen sowohl in der Wissenschafts- als auch in der Alltagssprache. Weitgehende Übereinstimmung besteht jedoch in der negativen Konnotation des Begriffs: Streß ist etwas Belastendes, Unangenehmes, Bedrohliches. Beschrieben werden können die Ursachen (die Situation ist “stressig”), die Folgen (ich fühle mich “gestreßt”) und der Prozeß selbst (das läuft bei mir ab, wenn ich unter “Streߔ stehe). Damit sind auch die wesentlichsten theoretischen Konzepte benannt. Obwohl Belastungs- und Streßbegriffe in der Literatur nicht einheitlich verwendet werden, kann von einem Minimalkonsens zwischen der angelsächsischen “Streßtradition” und der deutschsprachigen “Belastungs- und Beanspruchungstradition” ausgegangen werden. Im Sinne eines allgemeinen Person-Umwelt-Modells können die verschiedenen Begriffe in eine einfache Ordnung gebracht werden: die auf die Person einwirkenden Bedingungen als Belastung, Belastungsfaktor, Load, Stressor, Streßfaktor sowie die in der Person stattfindenden Prozesse bzw. deren Wirkungen als Beanspruchung, Beanspruchungsfolge, Fehlbeanspruchung, Streß, Streßreaktion, Strain.


Theoretische Konzepte

Stimuluskonzepte interpretieren Stressoren als Situationen, die Streß erzeugen (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, Tod eines nahestehenden Menschen). Das Problem der “stressful life event”-Forschung ist: Verschiedene Personen reagieren auf dieselben äußeren Bedingungen sehr unterschiedlich. Dennoch lassen sich bestimmte Stressorenklassen finden, die mit ziemlicher Regelmäßigkeit bei größeren Personengruppen als Stressoren wahrgenommen werden und entsprechende Reaktionen bewirken. Reaktionskonzepte gehen umgekehrt vor: Sie bestimmen Streß über das Verhalten des Organismus, unabhängig davon, wie er ausgelöst wurde. Streß ist nach Hans Selye, dem “Vater” der Streßforschung, die “unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Anforderung”. Das Hauptproblem dieses Ansatzes liegt in der Wahl des Kriteriums: Die verschiedenen Meßebenen korrelieren nur relativ gering miteinander. Zudem können, besonders im physiologischen Bereich, dieselben Reaktionen durch sehr verschiedene Ereignisse ausgelöst werden, die in ihrer psychologischen Bedeutung gegensätzlich sein können (z.B. Freude vs. Angst). Transaktionale Konzepte versuchen, Schwächen der genannten Konzepte zu überwinden. Hauptbestandteil dieser Ansätze ist die Inkongruenz zwischen den Anforderungen der Umwelt und den Kapazitäten des Individuums, wobei nicht die objektiven Anforderungen diese Inkongruenz quasi “automatisch” bedingen. Vielmehr gehen nach dem weithin anerkannten Konzept von Richard S. Lazarus Wahrnehmungen, Interpretationen und Antizipationen von Mißerfolg sowie Hypothesen über eine Beeinträchtigung relevanter Ziele und Bedürfnisse und schließlich die Einschätzung der Bewältigungsmöglichkeiten und -fähigkeiten in den Streßprozeß ein (Lazarus & Folkman, 1984). Transaktionale Modelle haben trotz weitgehender Anerkennung als kognitive und handlungsorientierte Konzepte allerdings wenig zur eindeutigeren Bestimmung des Streßbegriffs selbst beigetragen (Handlung). Deren Gewinn liegt vor allem in der Abgrenzung zu positiven Erregungszuständen, zu Euphorie, zu Herausforderung sensu Lazarus oder zu “Eustreߔ (“guter Streߔ) sensu Selye (“Negativer Streߔ wird demzufolge als “Distreߔ bezeichnet). Die Frage, unter welchen konkreten Bedingungen welche Reaktion erfolgt, wird im Ansatz von Lazarus nicht spezifiziert. In letzter Zeit werden zunehmend aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Belastungs- und Streßkonzepten verdeutlicht. Streß entsteht unter den genannten Bedingungen, wenn zielbezogenes Handeln erschwert wird (“Regulationshindernisse” und “Regulationsüberforderung”: durch Zusatzregulation, Regulationsunsicherheit oder Zielunsicherheit; Richter & Hacker, 1998) (RHIA, Handlungsregulation). Streß kann verstanden werden als ein intensiver, unangenehmer Spannungszustand in einer stark aversiven, bedrohlichen, subjektiv lang andauernden Situation, deren Vermeidung subjektiv wichtig ist. Die bisher angesprochenen (Streß-)Bedingungen beziehen sich nicht nur auf “große”, seltene Ereignisse, sondern vor allem auch auf kleinere, alltägliche Unannehmlichkeiten. Diese werden in der Literatur Mikrostressoren oder daily hassles genannt. Viele negative Ereignisse sind oft überhaupt nur deshalb als stressende Lebensereignisse zu interpretieren, weil sie zu sehr häufigen Mikrostressoren führen. Am Arbeitsplatz sind fast immer die täglichen Stressoren für die Streßgenese wichtiger als große und seltene negative Ereignisse. Entscheidend ist die Kumulation solcher Ereignisse, die für die Person zu einem Dauerzustand von kognitiv und emotional erfahrenem Streß führen kann (”Mehrfachbelastungen”) (Überblick: Laux, 1983; Richter & Hacker, 1998; Udris& Frese, 1999).


Streßprozesse und Streßfolgen

Die Folgen von Belastungen bzw. von nicht bewältigtem Streß sind vielfältig. Sie reichen von kurzfristigen, aktuellen, vorübergehenden Reaktionen bis zu langfristigen, chronischen Manifestationen mit körperlichem und/oder psychischem Krankheitscharakter (Tab. 1).


Belastungsfaktoren (Stressoren) in der Arbeit

Die folgende Auflistung von Belastungsfaktoren oder (potentiellen) Stressoren am Arbeitsplatz erhebt nicht den Anspruch, vollständig und erschöpfend zu sein, sie folgt aber aus der Überlegung, daß bei bekannten Zusammenhängen zwischen diesen Belastungsmerkmalen und gesundheitlichen Folgen Ansätze zur Krankheitsprävention, Gesundheitsförderung und zu Maßnahmen der Arbeitsgestaltung liegen können (Arbeits- und Gesundheitsschutz). Dabei soll die Aufmerksamkeit nicht auf die einzelnen Stressoren, sondern auf ”Mehrfachbelastungen” gerichtet werden. Offen ist jedoch immer noch die Frage, ob Belastungen und ihre Wirkungen sich addieren bzw. summieren, sich gegenseitig verstärken, sich gegenseitig aufheben oder sich maskieren bzw. überdecken. Stressoren in der Arbeitsaufgabe: Überforderung und Unterforderung quantitativer Art (unangemessenes Verhältnis von verfügbarer Zeit zur Arbeitsmenge) und qualitativer Art (Mißverhältnis zwischen inhaltlichen Anforderungen der Tätigkeit und Kompetenzen der Person). Physikalische Stressoren: Umgebungsbedingungen wie Lärm, Staub, Hitze, Schmutz etc. Stressoren in der zeitlichen Dimension: Schichtarbeit und Nachtarbeit, belastende Arbeitszeitregimes. Stressoren in der sozialen Situation: Rollenkonflikte durch gegensätzliche Anforderungen aus verschiedenen Rollen; Rollenambiguität (Unklarheit darüber, was zu den Aufgaben gehört); Soziale Stressoren (belastendes Verhalten von Vorgesetzten und Kollegen; (Mobbing, Führung). Organisatorisch bedingte Stressoren: Störungen des Arbeitsablaufs. Stressoren in der Berufskarriere: Umstellungsprozesse in der Arbeit. Antizipation von Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit.


Streßbewältigung und Ressourcen

Die bisherige Diskussion um belastende, potentiell krankmachende Arbeitsbedingungen muß um die Diskussion von entlastenden,gesundheitsschützenden Bedingungen ergänzt werden. Die Auseinandersetzung mit dem von Aaron Antonovsky (1979, 1997) vorgelegten Konzept der ”Salutogenese” führte zur Abkehr von pathogenetischen, d.h. krankheitsorientierten, Konzepten. Hier wird gefragt, wie Menschen trotz Belastungen und Streß gesund bleiben bzw. welche Mittel, ”Ressourcen”, einer Person zur Verfügung stehen bzw. sich aktivieren lassen, um mit Streß fertig zu werden, Belastungen zu ertragen und die eigene Gesundheit zu erhalten bzw. nicht krank zu werden. Ressourcen können als das Insgesamt der einer Person zur Verfügung stehenden, von ihr genutzten oder beeinflußten gesundheitsschützenden und -fördernden Kompetenzen und äußeren Handlungsmöglichkeiten verstanden werden. Es können zwei Klassen von Ressourcen unterschieden werden: innere (interne, individuelle, subjektive, personale) physische und psychische Ressourcen; äußere (externe, objektive) physikalische, materielle, biologische, ökologische, soziale, institutionelle, kulturelle, organisationale etc. Ressourcen. Theoretischen Modellen und empirischen Ergebnissen zufolge wird die gesundheitsbeeinträchtigende Wirkung von Stressoren durch die Verfügbarkeit und das Nutzen von personalen und situativen “Schutzfaktoren” gemildert oder “abgepuffert”, sie haben insofern Einfluß auf die Prozesse der primären und sekundären Bewertung gemäß dem Modell von Lazarus (Risiko- und Schutzfaktorenmodell).


Situationskontrolle

Verwandte Konzepte sind Autonomie, Entscheidungsspielraum, Situations-Kontrolle, Freiheitsgrade oder Zeitspielraum. Der Kontrollbegriff wird hier also – abweichend vom Alltagsverständnis – als in der Umwelt des Individuums liegende (prinzipielle) Beeinflußbarkeit belastender Bedingungen durch die Person verstanden. Wenn ich etwas kontrollieren kann, habe ich Einfluß darauf. Ich bin also nicht fremden “Mächten” ausgesetzt. Situationskontrolle entspricht einem menschlichen “Grundbedürfnis” nach Durchschaubarkeit, Verstehbarkeit und Beherrschbarkeit von Ereignissen (Kontrolle). Unterschieden wird dabei zwischen objektiver Kontrolle, als Ausmaß tatsächlich vorhandener Beeinflußbarkeit der Situation, und kognitiver Kontrolle, als Grad an wahrgenommener, antizipierter oder vermeintlicher Beeinflussung der (potentiell belastenden) Umgebungsbedingungen durch die Person. Arbeitsbedingungen führen trotz hohem Überforderungscharakter dann nicht oder in weitaus geringerem Maße zu psychischen Belastungswirkungen, wenn gleichzeitig in der Arbeit ein großer Kontrollspielraum gegeben ist.


Soziale Unterstützung

Das Vorhandensein stabiler sozio-emotionaler Netze und von Hilfeleistungen, ”soziale Unterstützung” genannt, besitzt eine positive Funktion für die Streßbewältigung, für die Prävention von Krankheiten und Befindensstörungen sowie für die Aufrechterhaltung der Gesundheit. Da soziale Unterstützung die Existenz von sozialen Netzen, interpersonalen Beziehungen oder Interaktionen zwischen “Empfänger” und “Geber” voraussetzt, muß sich der individuelle Prozeß der Streßbewältigung auf soziale Handlungen der Partner beziehen. Das Wissen um das Eingebettetsein in soziale Netzwerke und die Kognition von emotionaler Hilfe benötigen eine objektive Grundlage. Die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver (wahrgenommener, erlebter) Unterstützung ist deshalb wesentlich. Wirkmechanismen von Unterstützung müssen dagegen als dynamischer Prozeß gesehen werden, in dem eine Person Hilfeleistungen und darauf bezogene Kognitionen evozieren, mobilisieren, gewinnen, aufrechterhalten, annehmen, abweisen oder selbst anderen geben kann. Diese transaktionale Sichtweise verweist auf psychische Prozesse der (aktiven) Streßbewältigung und damit auf die Notwendigkeit, soziale Unterstützung auch als innere Ressource zu betrachten, die eine Person entwickeln bzw. verlernen kann.


Streßmanagement und Gesundheitsförderung

Aus der bisherigen Darstellung läßt sich ableiten, was man gegen Fehlbeanspruchungen bzw. negative Auswirkungen von Streß tun kann. Ansatzpunkte der Belastungsreduktion und der Gesundheitsförderung lassen sich in zweierlei Hinsicht bestimmen: 1) Veränderung der Situation oder der Person, 2) korrektiver Abbau von Belastungen und Beeinflussung der Beanspruchungen oder präventiver bzw. prospektiver Aufbau von institutionellen und individuellen Ressourcen (siehe Tabelle 2).

Gesundheitsförderung kann durch die direkte Veränderung von Belastungen erreicht werden, durch die Modifikation von Streßreaktionen und durch die Verbesserung von Bedingungen, die als Hilfsmittel zur Erreichung eigener Ziele und zur Reduzierung unangenehmer Zustände im Umgang mit Belastungen genutzt werden können. Im Sinne des Streßmodells von Lazarus wird der Prozeß der sekundären Bewertung durch Verbesserung der Coping-Potentiale positiv beeinflußt. Gesundheitsförderung darf sich aber nicht auf solche Maßnahmen beschränken, die ausschließlich auf eine Veränderung des Verhaltens oder der Kompetenz der Person gerichtet sind. Dennoch dürfen positive Effekte auch individuumsorientierter Maßnahmen, z.B. Streßmanagement, nicht unterschätzt werden.

Insgesamt ist aber einem integrierten Ressourcenansatz der Vorzug zu geben, der sich auch in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation findet, in der die Aufhebung von Defiziten hinsichtlich der Selbstkontrolle über die gesundheitsförderlichen Bedingungen gefordert wird.

Literatur

Laux, L. (1983). Psychologische Streßkonzeptionen. In H.Thomas (Hrsg). Theorien und Formen der Motivation (Enzyklopädie der Psychologie, 4, 1 S. 453-535). Göttingen: Hogrefe.

Lazarus, R.S. & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal and coping. New York: Springer.

Richter, P. & Hacker, W. (1998). Belastung und Beanspruchung. Streß, Ermüdung und Burnout im Arbeitsleben. Heidelberg: Asanger.

Udris, I. & Frese, M. (1999). Belastung, Beanspruchung, Streß und Gesundheit. In D. Frey, C. Graf Hoyos & D. Stahlberg (Hrsg.). Arbeits- und Organisationspsychologie – ein Lehrbuch. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Beispiele für Beanspruchungsfolgen bzw. Streßreaktionen

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