jedes Erlebnis, jede Beobachtung oder Einsicht, die das Wissen über die Umwelt oder über das eigene Wesen vermehren. In dem deutschen Wort »Erfahrung« steckt die Erkenntnis, daß man weit über den Umkreis der Familie und engeren Heimat hinaus gelangen müßte, um sich ein Bild über die Fülle des Lebens machen zu können. Und doch kann eine Kette sehr verschiedener Erfahrungen eher verwirren, wenn die Er lebnisse keinen Zusammenhang miteinander haben und sich an keiner Leitlinie mehr messen lassen. Die Fähigkeit zur Aufnahme von Eindrücken ist teils anlagebedingt, teils durch frühe Erfahrungen gedämpft oder ermuntert. Diese frühen Erfahrungen hinterlassen den nachhaltigsten Eindruck und prägen weitgehend das Muster, nach dem alle späteren Eindrücke verarbeitet werden. Die Bedeutung einer Erfahrung hängt entscheidend davon ab, daß sie eine direkte Beziehung zur eigenen Person hat. Vieles, was man erfahren hat, hat man zugleich erlitten. Dann werden Erfahrungen zu Enttäuschungen, das heißt zum Verlust von Illusionen. Es mag sich um Frustrationen, um Versagungen des Liebesbedürfnisses handeln, oder um die Erkenntnis eigenen Versagens. Jemand hat einmal Erfahrung als die Summe der Fehler charakterisiert, die man gemacht hat. Aber zu den Erlebnissen, die einen Menschen prägen, gehören natürlich auch die Erfahrungen eigener Erfolge oder einer starken Liebeszuwendung. Was man als Glück oder Leid intensiv erlebt hat, bleibt eine Erfahrung, die nachhaltiger überzeugt als jede Belehrung. In der modernen Massen und Industriegesellschaft nimmt die Möglichkeit zu direkter Erfahrung ab. Wir erfahren mehr und mehr »aus zweiter Hand«, zum Beispiel über die Massenmedien, und weil wir es nicht »erleben«, können wir oft keine Beziehung zum eigenen Leben mehr herstellen. Die Summe dieser im Grunde undurchschaubaren indirekten Erfahrung bietet keine Richtschnur mehr; sie hat ein diffuses Gefühl zur Folge, als ob wir durch einen Nebel tappten. Nur in der Beziehung zu unseren engsten Mitmenschen können wir wieder erleben und erfahren. Während Religion und Philosophie oft von vorgefaßten Zielen und theoretischen Systemen ausgehen, müßte sich die Wissenschaft auf die Erfahrung, die Empirie, berufen können. Viele Schulen der Psychologie sind aber noch irgendeiner Ideal-Vorstellung vom Menschen verhaftet, die die Erkenntnis der Realität einschränkt. Freilich muß auch die Psychologie aus der Fülle der Einzelerfahrungen zu Verallgemeinerungen gelangen, zu einem theoretischen System, das sie in einen Zusammenhang stellt und die Einordnung neuer Erfahrungen und die Ausbildung berechtigter Erwartungen ermöglicht. Knappe Formeln, wie sie zur allgemeinen Orientierung notwendig sind, lassen allzu leicht die zahllosen, oft sehr detaillierten Erfahrungen vergessen, auf denen die Psychologie (namentlich die Tiefenpsychologie) als Wissenschaft beruht.
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