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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Zeit

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

Zeit ist der Ablauf des Geschehens. Die Gegenwart hat streng genommen keine Ausdehnung; was eben noch Zukunft war, ist gleich darauf schon Vergangenheit. Die Zeit läßt sich nicht umkehren. Ihr Beginn oder ihr Ende ist im Grunde ebenso unvorstellbar wie die Endlosigkeit. Kleinste Zeiteinheiten werden zwar nicht bewußt wahrgenommen, aber sie brin gen Eindrücke mit sich, deren Einflüsse sich summieren. Die Zeit wird gemessen zunächst an natürlichen Vorgängen, am Lauf der Gestirne, am Zyklus von Ebbe und Flut, am Wechsel der Tages und Jahreszeiten, an der Folge der Generationen, in ihren kleinsten Einheiten am Takt des Atems und des Herzschlags. Heute sind weitgehend längst künstliche Einteilungen entscheidend. Dennoch gibt es Menschen mit einem ackuraten Zeitgefühl, die etwa auch zu einem vorgefaßten Augenblick aus dem Schlaf aufwachen können (»Kopfuhr«). Im allgemeinen aber unterscheidet sich das Erleben der Zeit oft recht wesentlich von ihrem tatsächlichen Ablauf. Ereignislose Abschnitte oder solche des Wartens scheinen sich qualvoll auszudehnen (Langeweile), Stunden voller Aktivität oder gar Glück schrumpfen scheinbar zu Augenblicken zusammen. Erinnerungen an kürzliche Ereignisse können so von neuen Erlebnissen überdeckt sein, daß sie sich auf eine längst vergangene Zeit zu beziehen scheinen. Bilder aus frühen Lebenstagen mögen so klar auftauchen, als seien sie eben erst erlebt worden. Im unbewußten Denken gibt es überhaupt keinen Zeitunterschied. Im Traum etwa werden irgendwie ähnliche Erfahrungen aus weit voneinander entfernten Lebensabschnitten zu einer winzigen Vorstellung verdichtet und verwoben. Hier zeigt sich, daß nichts wirklich vergessen worden ist. In diesen tiefen Regionen der Psyche ist das Alte nicht durch das Neue ersetzt worden, sondern hat sich neben ihm unverändert erhalten.

Die Zeit kann als die allgemeinste Form der erlebten Veränderung in der Natur (objektive Zeit), dem menschlichen Bewußtsein (Erlebniszeit) und der Geschichte (historische Zeit) verstanden werden. Sie ermöglicht die Wahrnehmung der Übergänge von der Gegenwart in die Vergangenheit oder von der Zukunft in die Gegenwart. Die physikalische Zeit ist irreversiblel, weder aufhaltbar noch wiederholbar. Dagegen kann der Mensch sich gedanklich in die Vergangenheit versetzen. In spezifischen Situationen scheint die Zeit für ihn stillzustehen ("psychologische Zeit"). Allgemein ist zu unterscheiden zwischen dem zyklischen Verständnis von Zeit (Zeitverständnis, zyklisches) und dem Konzept der linearen Zeit. In der Psychologie um die Jahrhundertwende (z.B. Benussi, 1878-1924) wurde Zeit als Sinn verstanden, vergleichbar dem Geruchs oder Gehörsinn. Zeit war etwas objektiv Gegebenes, und die Psychologen suchten nach dem Sinn(esorgan), der die Zeitreize erfassen und verarbeiten kann. Heute untersucht insbesondere die Chronobiologie die interozeptive Wahrnehmung (Interozeption) von Zeit im Sinne der "inneren Uhr". Zeit wird als intern getaktete Impulse wahrgenommen. Von besonderer Bedeutung dabei sind die Zeitgeber und der circadiane Rhythmus.

Wie Untersuchungen zur Wahrnehmung der zeitlichen Folge dokumentieren, ist diese ist nicht nur von der Folge der physikalischen Ereignisse, sondern auch von den Wahrnehmungsbedingungen abhängig. Bei längeren Zeitabständen zwischen zwei Ereignissen konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Dauer der Zwischenzeit. Dabei sind physikalische, physiologische und psychologische Faktoren wirksam. Der Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden unabhängigen Einzelreizen ist die Zeitstrecke. Die Wahrnehmung der Dauer bedeutet, daß aufeinanderfolgende Aspekte eines Geschehens quasi gleichzeitig erfaßt werden können. Bei kontinuierlichen Veränderungen eines engen Zeitraums, oder vom Beginn bis zum Ende eines Geschehens, spricht man von ausgefüllter Zeit. Ist die Zeitstrecke nur durch ein Anfangs- und Endsignal begrenzt, spricht man von leerer Zeit.

Psychologen haben versucht, die kürzeste Dauer eines bewußten Gegenwartsmoments zu messen. Das Resümee ist, daß es als wichtige biologische Konstante im menschlichen Nervensystem die zeitliche Wahrnehmungsgrenze von 18 Frequenzen pro Sekunde gibt. Wird diese Grenze überschritten, werden Einzelimpulse nicht mehr als solche wahrgenommen. Danach ist dieses die kleinste Ausdehnung der Gegenwart, da bei einem Überschreiten periodische Ereignisse in eine ständige Modalität umgewandelt werden. Umgekehrt liegt die längste experimentell ermittelte Dauer der Gegenwart zwischen 2,3 und 12 Sekunden. Die deutliche Variation der oberen Grenze steht offensichtlich in einer Verbindung mit der individuell unterschiedlichen eidetischen Konstitution (Eidetik).

In der Experimentellen Psychologie wird Zeit sowohl als abhängige (Reaktionszeit) oder als unabhängige Variable (Reizeigenschaft) aufgefaßt. Häufig wird dabei in vier Basiskategorien subjektiver zeitlicher Informationen Gleichzeitigkeit bzw. Ungleichzeitigkeit, Jetzt und Dauer unterschieden. Fraisse (1985) definiert Prozesse, die das Erleben einer über die psychologische Gegenwart hinausgehenden Zeitdauer ermöglichen als Zeitschätzung. Diese erfordert in einem höheren Maße Gedächtnisleistungen, während beim Jetzt stärker (neuro)physiologische Prozesse im Vordergrund stehen.

Die theoretischen Modelle und empirischen Befunde zur Erklärung von Zeitschätzung teilt Dutke (1997)in drei Kategorien ein. Modelle der Veränderungsmenge gehen davon aus, daß die Zeitschätzung durch die Menge situativer Veränderungen beeinflußt wird. Modelle des Speicherbedarfs fokussieren auf die Größe des Speicherbedarfs im Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis und/oder im Langzeitgedächtnis während des Stimulusintervalls (Gedächtnis). Modelle des kognitiven Verarbeitungsaufwands untersuchen die Anforderungen an die Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeit während des Stimulusintervalls.

Untersuchungsergebnisse

Das unterschiedliche Begriffsverständnis von Zeit zeigt sich auch in der Heterogenität der Untersuchungsergebnisse. Fraisse (1985) kritisiert, daß die häufig auftretenden interindividuellen Differenzen der Zeitwahrnehmung nicht zu weiteren Untersuchungen über das subjektive Phänomen der Zeit geführt haben. Bei Berücksichtigung der Subjektivität wird die naturwissenschaftlich orientierte experimentelle Herangehensweise an die quasi objektive Größe vor neue Aufgaben gestellt. So dient der Zeitmangel häufig als Entschuldigung, die Zeitbegrenzung beschleunigt aktivierend das Handeln, oder Zeit wird als unendlich ausgedehnt empfunden (Langeweile) bzw. sehr kurz und intensiv erlebt (Flow). Langeweile oder leere Zeit bei Meumann (1893 - 1896) als inneres Erleben wird vom Individuum gleichzeitig als äußeres leeres Geschehen betrachtet. Es fehlt das Handlungsziel (Ziele). Sie kann als das Ergebnis von Ereignislosigkeit verstanden werden. Diese kann aber auch das Ergebnis einer psychischen Sättigung (Sättigung, psychische) sein. So sucht der eine gerade die Stille, die ereignisarme Situation, die der andere wegen der in ihr empfundenen Langeweile meidet. Dem subjektiven Empfinden der gestreckten Zeitdauer (Zeitspanne) steht das Vergehen der Zeit wie im Fluge gegenüber. Solche Erlebnisse gesteigerter Intensität bewirken, daß sich die Zeit als Perspektive subjektiv auflöst. Die Zeitdauer wird danach nur erfahren, wenn die gegenwärtige Situation auf andere Situationen in der Zukunft oder der Vergangenheit verweist. Das bedeutet ein nicht ausgefüllt sein der Gegenwart beim Fehlen der beiden Perspektiven. Zeitdauer ist also in erster Linie ein Gefühl. Dabei ist nicht davon auszugehen, daß ein Erleben von Langeweile identisch sein muß mit dem Gefühl der Zeitdauer. Das aktuelle Zeiterleben ist nicht denkbar ohne die Antizipation zukünftigen Handelns. Die so subjektiv erlebte Zeit ist mit den Kategorien der gemessenen Zeit nicht faßbar.

Zeiterleben und Zeitbewußtsein

Die Auseinandersetzung mit psychologischen Aspekten der Zeit (Zeiterleben) greift zurück auf philosophische, soziologische und ökonomische Konzepte. Zeit wird verstanden als Tätigkeit, bei der es sich um ein "In Beziehung setzen" von Positionen oder Abschnitten zweier oder mehrerer kontinuierlich bewegter Geschehensabläufe (Elias, 1985)handelt. Bei der Analyse des Zeiterlebens müssen sowohl situationsspezifische als auch situationsübergreifende Merkmale berücksichtigt werden. Zum einen ist das der lebensgeschichtliche Verlauf, und zum anderen sind es die aktuellen Bedingungen. Hinzu kommen gesellschaftliche Normen und Werte. Allgemein ist davon auszugehen, daß das subjektive Zeiterleben sowohl von der Anzahl, der Art und Qualität der Ereignisse als auch von der aktuellen Stimmungslage der Person abhängt. Das aktuelle Zeiterleben ist nicht denkbar ohne die Antizipation zukünftigen Handelns. Zeit wird nicht als solche erlebt, sondern immer im Zusammenhang mit Handlungen und Veränderungen. Es gibt also immer eine enge Verbindung zwischen inneren und äußeren Rhythmen. In welchem Ausmaß man z.B. bei einer festgestellten Divergenz der Geschwindigkeiten sein eigenes Verhalten dem des anderen anpaßt oder aber versucht, den anderen zu beeinflussen, ist vermutlich neben Persönlichkeitsvariablen auch von den situativen Bedingungen abhängig.

Innerhalb der Psychologie ist der Bewußtseinsbegriff keineswegs eindeutig definiert. Für Lewin (1890-1947) ist das Zeitbewußtsein nicht nur ein zeitliches, sondern auch überzeitliches, da die Erinnerung über das Jetzt hinausgeht. Etwas Nichtgegenwärtiges wird gegenwärtig. Bewußtsein ist eine Instanz oberhalb der Zeitordnung. Bedeutsam ist, daß die Betonung auf dem Aspekt der Ganzheit und Komplexität liegt. Dabei sind die drei Komponenten Zeiterleben, Zeitperspektive und zeitbezogenes Handeln zentral, die jedoch nur in ihrer Zusammenschau eine Definition ergeben.

Zeitperspektive und zeitbezogenes Handeln

Ein großer Bereich psychologischer Arbeiten zum Phänomen Zeit befaßt sich mit dem Konstrukt der Zeitperspektive. Individuelles Zeitbewußtsein ist nicht statisch, sondern konstitutiert sich in Abhängigkeit von Ereignissen im Lebenslauf prozeßhaft. Zeitbezogenes Handeln zeigt einen doppelten Zeitaspekt. Zum einen werden bestehende gesellschaftliche Werte widergespiegelt, zum anderen werden aber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorausgesetzt. Der Begriff wird insbesondere von Lewin umfassender definiert (1953). Danach umfaßt die Zeitperspektive als Dimension des Lebensraumes eines Individuums alle Ansichten über die psychologische Zukunft und die psychologische Vergangenheit, die in einer gegebenen Zeit existieren können. Damit ist sie permanenten Veränderungen unterworfen. Bei der Veränderung bestimmter Feldkräfte verändert sich auch die Zeitperspektive. Phänomene wie z.B. Hoffnung, Furcht oder Erwartung können psychologisch nur verstanden werden, wenn deren interne zeitliche Strukturierung berücksichtigt wird. Lewin begründet außerdem die Bedeutung der Zeitperspektive für die Entwicklung des individuellen Anspruchsniveaus und weist damit den Weg für umfangreiche Forschungen im Bereich der Motivationspsychologie (Motivation).

Die Verwendung von Zeit unterliegt zwar gesellschaftlichen Normen, ist aber aufgrund der fehlenden Bindung an natürliche Ereignisse und der damit einhergehenden Entqualifizierung von Zeit nicht eindeutig definiert. Am Beispiel der Arbeit können zwei wesentliche Aspekte verdeutlicht werden: Arbeit strukturiert nicht nur die Zeit einschließlich Lebenszeit, sie hat auch eine sinnstiftende Funktion (Arbeitslosigkeit). Aufgrund der Veränderungen im Wertesystem bekommt auch Freizeit heute eine zunehmend stärker sinnstiftende Funktion. Zeitperspektive, zeitbezogenes Handeln und Zeiterleben stehen also in einer wechselseitigen Beziehung. Ohne die Fähigkeit, Vergangenes zu reflektieren und Zukünftiges zu antizipieren, ist die Wahrnehmung der Zeit als etwas Fließendes nicht möglich. Erst bei einer inhaltslosen Zukunft und dem Aufhören eines zukunftsbezogenen Strebens entsteht der Eindruck von Stillstand der Zeit. Die Auseinandersetzung mit der Zukunft bestimmt die Planung und Einteilung von Zeiträumen mit und prägt somit den Umgang mit der Zeit. Die Zeitperspektive ist demnach sowohl die Voraussetzung für den Umgang mit der Zeit als auch für das Zeiterleben.

Zeitbezogenes Handeln enthält insofern Aspekte der Zeitperspektive, als sich in der konkreten Verwendung von Zeit Vergangenheit oder Zukunft widerspiegeln. Der Umgang mit der Zeit wird aber auch geprägt von Formen der Bewältigung spezifischer Anforderungen, die sich aus der Verwendung von Zeit ergeben. Diese wiederum prägen unterschiedliche Formen des Zeiterlebens, wie z.B. Zeitknappheit. Die inhaltliche Struktur der Zeitperspektive und des Umgangs mit Zeit wirken auf das Erleben. So kann die Orientierung an einer Vielzahl von Ereignissen in der Zukunft bei einem gleichzeitig aufgestellten rigiden Zeitplan für die Gegenwart zu dem Gefühl des Gehetztseins (Streß) führen. Umgekehrt können aber auch das aktuelle Erleben von Zeitknappheit und ein dichter Zeitplan dazu führen, daß nur wenige Zukunftsperspektiven entwickelt werden (Ziele).

Vor dem Hintergund der skizzierten Entwicklung des Zeitbegriffes wird die Spannweite gesellschaftlicher Werte und Normen erkennbar, vor denen das individuelle Zeiterleben und -bewußtsein zu verstehen sind. Damit wird deutlich, daß eine psychologische Forschung, die sich in ihrer naturwissenschaftlich quantitativen Ausrichtung primär am Ideal des kritischen Rationalismus orientiert, diesem komplexen Phänomen nicht im vollen Umfang gerecht werden kann. Die Subjektivität des Menschen wird in einer Psychologie, die zu immer allgemeineren Gesetzen kommen will, nur nachrangig behandelt. Bei einer Betrachtung des Phänomens Zeit kann ein psychologischer Zugang aber nur über das Erleben und Bewußtsein des Subjekts erfolgen.

Literatur:

Dutke, S. (1997). Erinnern der Dauer: Zur zeitlichen Rekonstruktion von Handlungen und Ereignissen. Lengerich: Pabst Science Publishers.

Elias, N. (1985). Über die Zeit (2. ed.). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Fraisse, P. (1985). Psychologie der Zeit. Konditionierung, Wahrnehmung, Kontrolle, Zeitschätzung, Zeitbegriff. München: Reinhardt.

Lewin, K. (1953). Tat, Forschung und Minderheitenprobleme. In K. Lewin (Hrsg.), Die Lösung sozialer Konflikte. (S. 278-298). Bad Nauheim: Christian Verlag.

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