A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Bewusstsein

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer

Der Schritt zum reflektierenden, seine eigenen Funktionen wahrnehmenden Bewußtsein fand in der menschlichen Evolution wahrscheinlich parallel zur Entwicklung einer begrifflichen Sprache statt. Neuere Experimente mit Patienten, bei denen wichtige Verbindungen im Gehirn durch eine Operation zerstört worden waren, haben die bereits von S. Freud geäußerte Vermutung bestätigt, daß die Eigenart des Wachbewußtseins in der Verknüpfung einer Wahrnehmung mit Wortvorstellungen liegt. Patienten, bei denen die Nervenverbindungen im Gehirn zwischen den von dem linken und rechten Auge übermittelten Wahrnehmungen zerschnitten worden waren, konnten ohne weiteres bestimmen, was sie mit dem Auge sahen, dem das Sprachzentrum im Gehirn entspricht (meist dem rechten Auge; das Sprachzentrum liegt in der linken Gehirnhälfte, und die Sehnerven kreuzen sich). Deckte man dieses Auge ab und bot dem anderen Auge ein Bild, dann konnten die Versuchspersonen keine bewußte Wahrnehmung angeben, doch bei besonders affektbesetzten Bildern (etwa dem einer nackten Frau) schilderten die Versuchspersonen «so ein komisches Gefühl» und kicherten, obwohl sie nicht angeben konnten, was sie sahen.

Erst die Forschungen über das Unbewußte haben die Aufgaben des Bewußtseins deutlicher gemacht. Das Bewußtsein gehört zu den Ich-Funktionen, dient also im wesentlichen der Orientierung in der und Anpassung an die Realität. Sein biologischer Wert -der Überlebensvorteil, den es verschafft - liegt darin, daß durch das «Probehandeln» (S. Freud) des Denkens Handlungsmöglichkeiten in der Vorstellung durchgespielt werden können, ohne daß ein ähnlich hoher Grad von Erfolg notwendig ist wie beim realen Handeln (wo eine falsche Aktion unter Umständen lebensgefährlich ist). Auf diese Weise kann ein der jeweiligen Situation möglichst gut angepaßtes Handlungsmodell entworfen werden, das dann in die Tat umgesetzt wird. Hier liegt auch der wesentliche Schritt von der Verhaltenssteuerung durch Instinkte zu der durch bewußte Einsicht. Instinkte ermöglichen angepaßtes Verhalten ohne vorheriges Ausprobieren durch Versuch und Irrtum. Doch können sie nicht den lebensgeschichtlichen Veränderungen der Situation des Individuums gerecht werden, sondern sich nur im allmählichen Prozeß der stammesgeschichtlichen Auslese verändern. Das Bewußtsein entstand in der Evolution zum Menschen wohl deshalb, weil die

Fähigkeit, in einem inneren Abwägen zwischenmenschliche, soziale Beziehungen planend vorwegzunehmen, die kleinen Gruppen der Vormenschen überlebensfähiger machte.

Bewußtsein, ein Begriff, unter dem in der kognitionswissenschaftlichen Literatur eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Phänomene und Konzepte (etwa phänomenales Bewußtsein, Intentionalität, Selbstbewußtsein) diskutiert werden. Gemeinsam haben sie, daß sie sich auf die subjektive Natur unserer Erfahrungen beziehen. In unserem phänomenalen Bewußtsein scheinen wir gleichsam einen inneren "Raum" konstruiert zu haben, in dem Vorstellungen über Aspekte der physikalischen Welt, über eigenes Verhalten, über das Ich selbst und über das Bewußtsein anderer die Vielzahl komplexer, unbewußter Denk- und Wahrnehmungsprozesse zu steuern helfen. Phänomenal treten uns mentale Vorgänge besonders in neuartigen Situationen, in denen automatische Prozesse kein angemessenes Verhalten ermöglichen, ins Bewußtsein; durch eine interne Simulation einer neuartigen Situation können wir die Konsequenzen von Entscheidungen antizipieren. Das phänomenale Bewußtsein bezieht sich jedoch nur auf einen sehr begrenzten Aspekt mentaler Aktivität, da nahezu alle mentalen Prozesse unbewußt ablaufen und sowohl in der Wahrnehmung wie im Denken höchstens das Endprodukt dieser Prozesse dem Bewußtsein zugänglich ist.

Sieht man die als Bewußtsein bezeichneten Phänomene als eine biologisch-physikalische Eigenschaft der Organisation unseres Gehirnes an, stellt sich für die Kognitionsforschung das Problem, wie sich eine naturwissenschaftliche, d.h. perspektiveunabhängige Theoriebildung mit Aspekten einer Welterfahrung aus der Perspektive der ersten Person in Beziehung setzen läßt. In der Ich-Perspektive ist das "Bewußtsein" etwas unmittelbar Evidentes, in einer naturwissenschaftlichen Theoriebildung ist es etwas theoretisch Erschlossenes, d.h. beide Begriffe fallen zunächst auseinander.

In der Kognitionsforschung gibt es vehemente Kontroversen über die Stellung von Bewußtseinsprozessen in unserem theoretischen Bild von der Natur des Geistes, die unter Stichworten wie Funktionalismus, Neuroreduktionsmus, Emergenz oder Supervenienz diskutiert werden (Leib-Seele-Problem). Auch die evolutionsbiologische Bedeutung von Bewußtseinsprozessen muß weiterhin als ungeklärt gelten.

Vorhergehender Fachbegriff im Lexikon:

Nächster Fachbegriff im Lexikon:

Psychology48.com

Das freie Lexikon der Psychologie. Fundierte Informationen zu allen Fachgebieten der Psychologie, für Wissenschaftler, Studenten, Praktiker & alle Interessierten. Professionell dargeboten und kostenlos zugängig.

Psychologielexikon
Psychologie studieren

Modernes Studium der Psychologie sollte allen zugängig gemacht werden.