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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Neurose

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms

Störungen des Erlebens und Verhaltens, bei denen im Gegensatz zu den Psychosen die Einsicht erhalten bleibt, daß eine solche Störung vorhanden ist. Als der Begriff im 18. Jahrhundert geprägt wurde, umfaßte er neben der Hysterie auch andere, heute als körperlich bedingt erkannte Leiden: den Zustand nach einem Schlaganfall , die Epilepsie oder Nervenlähmungen. Erst S. Freuds Forschungen (Psychoanalyse) über die erlebnisbedingten Ursachen von Neurosen erlaubten eine immer deutlicher werdende Grenzziehung zwischen solchen Störungen und anderen, die oft äußerlich ähnliche Symptome bewirken, aber nicht auf einer gestörten Erlebnisverarbeitung, sondern auf organischen Schäden beruhen. Gleichzeitig konnte Freud zeigen, daß neurotische Störungen Extremformen - Vergröberungen und Vergrößerungen - von Vorgängen sind, die in der Persönlichkeitsentwicklung aller Menschen vorkommen (Ödipuskomplex, Abwehr, Identifizierung, Verdrängung). Man kann Freuds Neurosenlehre in einen formalen und einen inhaltlichen Teil gliedern. Formal gesehen entsteht die Neurose durch ein Mißglücken der Abwehr unbewußter Wünsche (Motive), die entweder einen innerseelischen Konflikt auslösen würden, der nicht überwindbar scheint, oder eine starke Bedrohung von außen nach sich zögen. Daher wird der Konflikt zwischen Wunsch und Abwehr nicht bewußt verarbeitet, sondern verdrängt: die Wunschregung und ihre Abwehr verschwinden beide aus dem Bewußtsein, bleiben jedoch im Unbewußten aktiv und suchen erneut, in das Bewußtsein einzudringen, um damit den Zugang zu den Handlungsmöglichkeiten, welche dieses besitzt, zu gewinnen. Um eine vom Zusammenbruch bedrohte Verdrängung aufrechtzuerhalten, benützt das Ich nun zusätzliche, krankhafte Abwehrmechanismen, darunter die Verschiebung (statt des Vaters, der sich in der unbewußten kindlichen Phantasie für die sexuellen Wünsche rächt, wird ein Hund, ein Wolf, ein Pferd... gefürchtet) oder die Konversion : Ein körperliches Leiden zieht die Aufmerksamkeit des Bewußtseins an sich und befriedigt das Strafbedürfnis des Über-Ich. Inhaltlich sind es vor allem sexuelle Phantasien aus der Kindheit, die den Verdrängungsprozeß in Gang setzen, wobei Fixierungen sowohl durch besondere Trieb-Stärke wie durch besonders ungünstige Umwelteinflüsse zustande kommen können (kindliche Sexualität, Ödipuskomplex).

Von anderen Vertretern der Tiefenpsychologie und in jüngerer Zeit auch von Seiten der Verhaltenstherapie ist diese Neurosenlehre erweitert, aber auch angegriffen worden. Den heutigen Stand der Diskussion kann man so zusammenfassen: An der Wirklichkeit und Bedeutung von Freuds Beobachtungen ist kein Zweifel mehr, doch sind seine Ansätze in den meisten Bereichen noch ergänzungsbedürftig und gelten wohl auch nicht für alle Neurosen, sondern nur für den in Freuds Patientenkreis (dem Bürgertum des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts) vorherrschenden Typ.

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