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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Verhaltenstherapie

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

Im Gegensatz zur Psychotherapie gilt in dieser aus dem Behaviorismus entwickelten Form der Behandlung von Neurosen das Symptom nicht als Ausdruck eines unbewußten seelischen Konflikts oder als Folge von Verdrängung, sondern als ungünstiges Verhalten, das nach den Grundsätzen des Konditionierens (bedingter Reflex) erworben wurde. Man geht dabei von Tierversuchen aus, in denen zum Beispiel Katzen dadurch eine heftige, «neurotisch» wirkende Angstreaktion erwerben, daß man sie schmerzhaften elektrischen Schlägen aussetzt. Solche Tiere bleiben besonders schreckhaft; im Gegensatz zu anderen erlernten Verhaltensweisen werden diese Angstreaktionen und das Vermeidungsverhalten (die Tiere sind unfähig, in einem Käfig zu fressen, der dem gleicht, in dem sie den Schock erhielten) nicht allmählich geringer. Sie werden nicht gelöscht oder «vergessen», ähnlich wie ein Neurosekranker auch dann nicht die Platzangst verliert, wenn er genau weiß, daß es ungefährlich ist, den Platz zu überqueren. In der wichtigsten Technik der Verhaltenstherapie, der «systematischen Desensitivierungs», wird nun der Katze in so großer Entfernung von dem angsteinflößenden Käfig Futter angeboten, daß sie gerade noch frißt. Das Fressen mildert die leichte Angst so, daß es schrittweise möglich ist, das Tier immer näher zum Käfig zu bringen, ohne daß es Angst entwickelt. Endlich scheut es den Käfig nicht mehr.

Ähnlich werden Menschen mit Angstreaktionen angewiesen, eine Methode der Entspannung zu erlernen und sich dann schrittweise erst kleinere und später immer ausgeprägtere Angstsituationen vorzustellen (oder auch diese wirklich aufzusuchen). Auf diese Weise kann die Angst vermindert werden. Ein anderes Vorgehen ist die Aversionstherapie; hier werden unerwünschte Verhaltensweisen (wie das Trinken bei Alkoholikern) durch schmerzhafte elektrische Schläge bestraft. Ein umgekehrter Ansatz ist die Verhaltensformung; dabei sucht man erwünschte Verhaltensweisen schrittweise durch Belohnung aufzubauen. Wegen des engbegrenzten Ansatzes in der Erklärung und Behandlung seelischer Störungen (die Verhaltenstherapie stützt sich fast ausschließlich auf die Grundlagen des Konditionierens) ist die Verhaltenstherapie vor allem bei klar abgrenzbaren, nicht zu lange bestehenden Verhaltensstörungen wirksam. In ihrer praktischen Anwendung werden häufig die Gesichtspunkte der Psychotherapie und der Gesprächspsychotherapie hinzugezogen. Gegenwärtig wird die lerntheoretische Verhaltenstherapie vielfach zu einer kognitiven Verhaltenstherapie weiterentwickelt, die traditionell psychotherapeutische Vorstellungen neu formuliert und einbezieht.

Die Verhaltenstherapie (engl. behavior therapy) kann in Anlehnung an Margraf (1996, S. 3) als eine auf der empirischen Psychologie basierende psychotherapeutische Grundorientierung verstanden werden. Sie umfaßt störungsspezifische und phänomenspezifische Psychotherapieverfahren, die aufgrund von möglichst hinreichend überprüftem Störungswissen und psychologischem Änderungswissen eine systematische Besserung der zu behandelnden aktuellen Problematik, Störung und/oder Behinderung anstreben. Die Maßnahmen verfolgen konkrete und operationalisierte Ziele auf den verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens, leiten sich aus einer Störungsdiagnostik und individuellen Problemanalyse ab und setzen an prädisponierenden, auslösenden und/oder aufrechterhaltenden Problembedingungen an. Über den Praxisbereich der psychotherapeutischen Behandlung von psychischen Störungen im engeren Sinn hinaus leistet die Verhaltenstherapie wesentliche Beiträge zur Prävention und Rehabilitation sowohl körperlicher als auch psychischer Erkrankungen. Im folgenden soll die Verhaltenstherapie in ihrer technologischen Ebene als Praxis der Verhaltenstherapie beschrieben werden. Die verhaltenstherapeutische Praxis steht im Spannungsfeld von Verhaltensdiagnostik, Verhaltenstherapiemethoden und einer integrierten Interventionstechnologie, die von klinisch-psychologischen Störungen ausgeht .

Verhaltensdiagnostik in der Verhaltenstherapie

Im Kontrast zu psychiatrischen Modellvorstellungen entwickelte die Verhaltenstherapie schon recht früh alternative Definitionen eines Symptoms. Symptome psychischer Störungen werden in der Verhaltenstherapie als Verhaltensexzeß oder als -defizit definiert. Das symptomatische Verhalten wird anhand unterschiedlicher Beschreibungsebenen klassifiziert (Verhaltensanalyse). Dabei wird neben der motorischen (Was tut jemand?), die kognitive (Was denkt jemand in der sprachlichen oder bildhaften Modalität;, die psychophysiologische (Wie reagiert der Körper Variable) und die emotionale Ebene unterschieden. Neben der Verhaltensanalyse werden die Bedingungen bestimmt (Bedingungsanalyse), die zur Entwicklung des Symptoms und/oder zur Auslösung des Symptoms beitragen. Die Verhaltenstherapie ist eine der ersten Psychotherapierichtungen, die verstärkt die Entstehung und die Aufrechterhaltung von Symptomen unterscheidet. Im Rahmen dieser funktionalen Problemanalyse hat sich die Verhaltensgleichung (S-R-Modell bzw. R-K-Modell) zu einem Systemmodell entwickelt:

Diese Gleichung betont, daß unterschiedliche Verhaltensaspekte (R) durch auslösende Situationsmerkmale (S), die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Person liegen können, getriggert (ausgelöst) werden. Für diesen Teil der Gleichung werden theoretische Modelle der Stimulussubstitution (z. B. Klassisches Konditionieren) für die Entstehung von psychischen Störungen in die praktische Anwendung der Verhaltensgleichung integriert. Die der Reaktion nachfolgenden Reizbedingungen (Konsequenzen, K) erhöhen oder erniedrigen je nach Art der Verstärkung die Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens. Das Kontingenzverhältnis (C) beschreibt das Verhältnis zwischen Reaktion und nachfolgendem Verstärker in Häufigkeits- oder Zeiteinheiten.

Insgesamt können die Konsequenzen nach drei Dimensionen unterschieden werden: (a) kurzfristige und langfristige; (b) auf die Person und auf die Umwelt (besonders die soziale) bezogen; und (c) die positive vs. negative Valenz. Die anfangs als rein biologisch verstandene Organismusvariable (O) hat sich im Laufe der Entwicklung der Verhaltenstherapie zu einem Selbstregulationssystem entwickelt. Neben den reversiblen und irreversiblen biologischen Zuständen des Organismus werden inzwischen auch Kognitionen als verhaltensregulierend angesehen. Dabei wird eine hierarchische Struktur von konkreten Verhaltenserwartungen bis zu allgemeinen Regeln und Plänen angenommen. Insofern hat sich die Verhaltenstherapie zu einer kognitiv-behavioralen Therapie entwickelt (Margraf, 1996).

Als ein weiteres zentrales Merkmal der Verhaltenstherapie ist die Absprache von konkreten Zielverhaltensweisen zu sehen, die geändert bzw. erlernt werden sollen (Zielanalyse). Im Vergleich zu anderen Psychotherapierichtungen bemüht sich die Verhaltenstherapie um die einfach beschreib- und beobachtbare Definition von Therapiezielen (Was soll ich am Ende der Therapie anders fühlen, denken, handeln, oder wie soll mein Körper anders reagieren).

Generell verfolgt die Verhaltenstherapie folgende Hauptziele: a) Reduktion der Krankheitssymptomatik und Rezidivprophylaxe; b) Aufbau alternativer, gesundheitsfördernder Kompetenzen und c) Stärkung des Selbsthilfepotentials. Bei komplexen psychischen Störungen ist häufig der Einsatz der Funktionsanalyse notwendig. Die Problemanalyse bezieht sich auf wenige Symptome oder ein Syndrom. Bei Vorliegen mehrerer Syndrome (z. B. Agoraphobie und Depression) werden getrennte Problemanalysen erstellt. Mittels der Funktionsanalyse wird versucht, die unterschiedlichen Problemanalysen in ihrer wechselseitigen Dependenz zu analysieren. Dieser verhaltensdiagnostische Zugang mündet in die Therapieplanung und die Effektivitätskontrolle der Verhaltenstherapie (Evaluation).

Methoden der Verhaltenstherapie

Ein weiteres effektives Standbein der Verhaltenstherapie ist eine Vielzahl von therapeutischen Einzeltechniken und Strategien. Aufgrund der historischen Entwicklung der Verhaltenstherapie können grob drei Schwerpunkte beschrieben werden:

* In den klassischen Verhaltenstherapiemethoden zielt die Veränderung vor allem auf das beobachtbare Verhalten ab, und diese wird durch eine spezielle Übungspraxis erreicht, wobei sich Änderungen in kognitiven Prozessen nachfolgend ergeben.

* Im Rahmen der kognitiven Therapie liegt der Veränderungsfokus der therapeutischen Methoden auf Denkmustern und Bewegungsprogrammen, wobei sich die Änderungen im Verhalten nachfolgend ergeben.

* In der kognitiven Verhaltenstherapie liegt der Fokus der therapeutischen Intervention sowohl auf der Verhaltensebene als auch auf der Ebene der Denk- und Wahrnehmungsmuster.

Neben einer Vielzahl von Einzeltechniken, die auf spezifische Symptome abzielen, können fünf verschiedene Technikbereiche differenziert werden: a) Stimuluskontrolle, Konfrontations- und Bewältigungsverfahren; b) Operante Verfahren und Strategien der Selbstkontrolle; c) kognitive Verhaltenstherapie; d) Training sozialer Kompetenz und

e) Entspannungstechniken (Linden & Hautzinger, 1993).

In der Behandlung von Ängsten, Alkoholabhängigkeit und Trauerreaktionen kommen vor allem Methoden zur Stimuluskontrolle und der Konfrontations- und Bewältigungsverfahren zum Einsatz. Wesentliches Prinzip dieser Gruppe von Interventionen ist die Konfrontation mit den auslösenden Situationen (Stimuluskontrolle), die sowohl in der Vorstellung als auch in den realen Situationen erfolgen kann. Mit den Konfrontationsübungen wird den Patienten ein differenziertes Reaktions- oder Emotionsmanagement vermittelt. Operante Verfahren zielen auf die Veränderung des Symptoms mittels der Veränderung der Konsequenzen des Symptoms ab. Im wesentlichen werden dabei der Abbau symptomatischen Verhaltens und der Aufbau von alternativen Verhaltensweisen, die Stabilisierung dieser Verhaltensweisen und das Kontingenzmanagement unterschieden. Kognitive Therapieverfahren zielen auf die systematische Veränderung von Denk- und Bewertungsmustern ab. Die Hauptrichtungen der kognitiven Verhaltenstherapie sind in der Kognitiven Therapie von Beck, in der Rational-Emotiven Therapie (RET) nach Ellis, in der Änderung des inneren Monologs durch Selbstinstruktion und Streßimpfung sensu Meichenbaum und im Problemlösetraining zu sehen.

Fehlerhafte Kognitionen, die ansonsten dazu führen, daß die Realität aufgrund von Schemata verzerrt wahrgenommen wird, werden in der kognitiven Therapie nach Beck besonders beachtet. Die Veränderung der automatischen Gedanken geschieht im Registrieren von solchen Gedanken, in der Auseinandersetzung mit den Gedanken, im Prüfen von Kognitionen in der Realität, in der Entwicklung von alternativen Gedanken und im Aufbau realistischer Erwartungen.

In der RET werden Bewertungen als irrational oder rational identifiziert. Die irrationalen Bewertungen werden hinsichtlich ihrer emotionalen Konsequenzen (hedonistischer Disput) und ihrer logischen Begründetheit (logischer Disput) geprüft und ggf. mit dem Patient durch rationale Alternativen ersetzt.

Selbstinstruktions- und Streßimpfungstraining gehen davon aus, daß der innere Monolog bzw. die damit verbundenen Selbstverbalisationen eine wesentliche Ursache für die Entwicklung von Symptomen darstellen. Entsprechend werden in der Informationsphase die Bedeutung von Selbstverbalisationen erarbeitet, ungünstige Selbstverbalisationen identifiziert und günstige Verbalisationen mit dem Patient erarbeitet (Übungsphase) und dann in Realsituationen angewendet.

Das Problemlösetraining als verhaltenstherapeutische Methode wird eingesetzt, um psychische Symptome, die sich im Zuge interpersoneller Probleme bilden, durch angemessene soziale Reaktionen zu ersetzen. Die Lösung von sozialen Problemen wird analog einer denkpsychologischen Metastrategie eingeführt.

Das Training sozialer Kompetenz gehört neben der kognitiven Verhaltenstherapie zu den am häufigsten eingesetzten Therapieverfahren in der Verhaltenstherapiepraxis. Wesentliche Grundlage ist die Unterscheidung von sozial ängstlichen, sozial kompetenten und aggressiven Verhaltensweisen. Wesentliche Einzeltechniken sind: a) Erarbeitung von Erklärungsmodellen für sozial unsicheres, sozial kompetentes und aggressives Verhalten; b) Diskriminationstraining der drei Verhaltensklassen; c) Instruktion und Modellernen als Grundlage von Rollenspielen; d) Hausaufgaben zur Generalisierung in den Alltag.

Die Progressive Muskelentspannung ist das Hauptverfahren der Entspannungstechniken in der Verhaltenstherapie. Neben diesem Verfahren haben sich andere Entspannungsverfahren, wie das autogene Training, Meditationstechniken und Yoga, in der Verhaltenstherapie etabliert. Diese Verfahren werden generell eingesetzt, um im Anschluß an erregungsintensive Situationen oder bei einem chronisch erregten Zustand, die körperlichen und besonders die vegetativen Reaktionen zu dämpfen.

Klinisch-psychologische Störungstherapie

Zu der Evaluation der Verhaltenstherapiemethoden verläuft parallel eine Entwicklung von empirisch abgesicherten, störungsbezogenen Therapiemanualen. Eine Störungsdiagnose ist Ausgangspunkt der Therapieplanung, die häufig nach Kriterien eines psychiatrisch-statis-tischen Diagnosemanuals gestellt wird. Störungsspezifische Therapieverfahren gelten in ihrer Wirksamkeit als verschieden gut abgesichert. Zu den abgesicherten Therapieverfahren gehören:

Beck´s kognitive Therapie bei Depression;

* Verhaltenstherapie bei Entwicklungsstörungen, Enuresis u. Enkopresis, Kopfschmerzen und Reizkolon sowie bei weiblichen Orgasmusbeschwerden u. männlichen Erektionsbeschwerden.

Zu den wahrscheinlich wirksamen Methoden gehören:

* Behaviorale Partnertherapie;

* Kognitive Verhaltenstherapie bei chronischen Schmerzen, bei Panikstörungen oder/und Agoraphobie, bei generalisiertem Angstsyndrom;

* Konfrontationstherapie bei Phobien u. posttraumatischen Belastungsstörungen;

* Konfrontation u. Reaktionsverhinderung bei Zwangssyndromen;

* Psychoedukative Familienbetreuung bei Schizophrenien;

* Kognitive Gruppenverhaltenstherapie bei Sozialphobien;

* Elterntrainingsprogramme bei Kindern mit oppositionellem Trotzverhalten;

* Systematische Desensibilisierung bei spezifischen Phobien;

* Münzsysteme bei chronisch psychiatrischen Patienten (Tokenprogramme);

* Angewandte Entspannung bei Panikstörungen;

* Verhaltenstherapie bei Sexualstraftätern;

* Dialektische Verhaltenstherapie bei Borderlinepersönlichkeitsstörung und

* Lewinson´s Therapie der Depression.



Literatur

Margraf, J. (1996). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Berlin: Springer Verlag, Bd.1 und Bd. 2
Linden, M. & Hautzinger, M. (1993). Verhaltenstherapie. Berlin: Springer Verlag.
Hoffmann, N. (1990). Verhaltenstherapie und Kognitive Verfahren. Mannheim: PAL-Verlag.

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