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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Phantasie

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck

die Einbildungskraft, die die Möglichkeiten unseres inneren Erlebens über die äußeren Erfahrungen hinaus erweitert. Die Bilder und Ereignisse, die uns die Phantasie vorzaubert, setzen sich immer aus realen Eindrücken zusammen, die jedoch in eigentümlicher Weise verändert werden. Die Phantasie vergrößert oder verkleinert, wie etwa in den Märchen von Riesen und Zwergen. Sie kombiniert, so in der Vorstellung von Engeln, die Menschen und Vögel zugleich sind. Meist verschönert sie, mildert das Unangenehme, verleiht dem Erfreulichen einen zusätzlichen Glanz. Diese Neigung der Phantasie verfälscht auch unsere Erinnerung an wirkliche Ereignisse. Viele schöne Vorstellungen bilden wir uns willentlich, zum Beispiel indem wir in Tagträumen schwelgen. Viele Sagen, Märchen und Mythen, ein großer Teil der Bildenden Kunst und der Literatur dienen letzten Endes solchen wunschgerechten Phantasien. Oft haben da andere für uns Tagträume, wie sie mehr oder weniger den meisten Menschen naheliegen, so gestaltet, daß der Unterschied zwischen Realität und Wunschdenken verschwimmt. Zugleich haben sie eine neue greifbare Wirklichkeit geschaffen. In ähnlicher Weise geht die Phantasie in Realität über, wenn sie als Spiel dargestellt wird. Andere Vorstellungen überkommen uns ungewollt, so vor allem im Schlaf als Traum. Hier ist die Kontrolle unseres Bewußtseinsso vermindert, daß sich die Wünsche aus der Tiefe des Unbewußten als Traumbilder durchsetzen können. Manches von dem, was so die Verdrängung durchbricht, kommt uns vollkommen fremd vor, und doch stammt es aus unserem Es, dem Teil unserer Seele, zu dem wir sonst keinen unmittelbaren Zugang haben. Jedoch ist der Einfluß der Kontrollen, die sich aus Erziehung und Erfahrung ergeben haben, noch immer so groß, daß sie die Traumbilder bis zur Unkenntlichkeit verändern konnten. Zugleich sorgt die Situation des Schlafes dafür, daß die Phantasie nicht in Handlungen umgesetzt werden kann. Auch bei wilden Tagesphantasien und der Gestaltung verbotener Wünsche in der Kunst beruhigen wir uns damit, daß dies ja nur Vorstellungen sind. Freud ging davon aus, daß unser Leben zunächst vom Lustprinzip beherrscht wird. Es verführt uns dazu, die Welt so zu sehen, wie wir sie uns wünschen. Allmählich müssen wir die Realität um uns her erkennen und unser Streben auf die Möglichkeiten einstellen, die sie uns beläßt. An die Stelle des Lustprinzips müssen wir das Realitätsprinzip setzen. Dieser Verzicht fällt uns so schwer, daß wir uns für das Wunschdenken einen »Naturschutzpark« einrichten, eben die Phantasie. Sie gilt häufig den Wünschen, deren Befriedigung in der Wirklichkeit am schwersten zu erreichen ist. Die Phantasie macht uns großartig, stark und erfolgreich, nährt also unseren Narzißmus. Sie eröffnet uns auch jene sexuellen Freuden, auf die uns die Moral zu verzichten gelehrt hat. Sie erlaubt uns, unsere Aggression und Zerstörungslust in einem Maße freizugeben, das wir bewußt als Grausamkeit und Verbrechen weit von uns weisen würden. Als Ventil für ungezügelte Sexualität und Destruktion trägt die Phantasie wesentlich zur Einordnung des Triebwesens Mensch in seine Kultur und Gesellschaft bei. Zwar stellt sie uns oft auch die Gefahren des Lebens vor, vergrößert sie manchmal ins Riesenhafte, aber meist nur, um uns vorzuspiegeln, wie wir über alle Widrigkeiten obsiegen, bis sogar der leibliche Tod keine Schrecken mehr zu haben scheint. So enthalten Phantasien oft auch Angst und Grauen. In unseren Träumen und Wachvorstellungen wiederholen wir viele unangenehme Erfahrungen und steigern sie wohl noch, sodaß die Auffassung von der Phantasie als Wunschdenken unglaubhaft wird. Ein Teil der Angst in unseren Phantasiebildern ist aber direkt an die Wünsche gekoppelt, von denen sie gespeist werden. Es ist eine soziale Angst, die aus der Erfahrung kommt, daß gewisse Triebbefriedigungen von den Mitmenschen mit Strafe oder Liebesentzugbedroht sind. Da wir einen Teil dieser Gebote verinnerlicht haben, sorgt nun unser Über-Ich dafür, daß uns auch die Phantasie-Erfüllung solcher Wünsche nicht ohne den Preis der Angst erlaubt ist. Im Alptraum reißt uns die Angst aus einer verbotenen und gefährlichen Wunschvorstellung heraus. Andere Elemente der Angst in der Phantasie werden wie Hindernisse aufgestellt, die den endlichen Erfolg nur noch größer erscheinen lassen. Doch die Wiederholung schrecklicher Erlebnisse in Träumen und Wachphantasien, wie sie vor allem im Zusammenhang mit einer traumatischen Neurose (nach Unfällen, Kriegsnöten und dgl.) auftritt, gehört zu den Erscheinungen, die Freud veranlaßten, ein seelisches Geschehen »jenseits des Lustprinzips« anzunehmen und auf das Wirken eines Todestriebes zurückzuführen. Es scheint hier ein Wiederholungszwang wirksam zu sein, der auf die Rücckehr in einen früheren Zustand angelegt ist, letzten Endes in das Nichtsein vor dem Lebensbeginn. Doch das Abspielen schrecklicher oder peinlicher Erfahrungen in der Phantasie dient doch auch der Lebenserhaltung. Es stellt einen Versuch dar, diese Erfahrungen im nachhinein endlich zu verarbeiten. Die unlustvolle Phantasie macht aus dem Erlebnis, das uns von außen überfallen hat, eine Vorstellung, die wir selbst bilden. So machen wir uns den schmerzlichen Vorgang »zu eigen«, setzen ihn von der äußeren Wirklichkeit ab und können hoffen, ihn zu beherrschen. Die Gabe der Phantasie ist ein Teil der Anlage, die ein jeder Mensch nach besonderem Maß mit auf die Welt bringt. Sie kann im Laufe des Lebens, vor allem während der Kindheit, angeregt und gesteigert oder vernachlässigt und eingedämmt werden. Über den Forderungen der äußeren Realität wird oft verkannt, daß auch Phantasien eine Wirklichkeit, eine innere Realität sind. Sie sind ein Zugangsweg zu unseren unbewußten Kräften. Diese Art Zugang ist eine der Voraussetzungen zum Schaffen des Künstlers. Aber auch der Philosoph, der wissenschaftliche Neuerer und selbst der technische Erfinder bedarf der Phantasie, um Möglichkeiten zu erkennen, die dann der Verstand und der Realitätssinn nachprüfen muß und ausnutzen kann. Andererseits besteht die Gefahr, die Phantasie mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Der Wahnkranke lebt beinahe nur noch in einer Phantasiewelt. Sehr vielen Menschen erscheint die Realität zeitweise oder dauernd so unerträglich, daß sie in Phantasien flüchten, sie vielleicht durch Alkohol oder andere Rauschgifte steigern. Manchmal ergreifen Wunschvorstellungen eine ganze Gesellschaft. Dann wirken die, die den Wahn durchschauen, als gefährliche Ketzer.Vorstellungskraft. Die menschliche Fähigkeit, mit abstrakten Begriffen (Denken) oder inneren Bildern an einer subjektiv hergestellten, inneren Wirklichkeit probierend Veränderungen vorzunehmen und auf diese Weise neue Bilder zu gestalten, ist von großer Bedeutung für alle schöpferischen Leistungen. Die biologische, das heißt auf das Überleben gerichtete Aufgabe der Phantasie liegt sicherlich darin, daß in ihr, ohne in der Wirklichkeit etwas zu riskieren, allmählich immer vollkommenere Bilder eines im Bedarfsfall ausgeführten Verhaltens entworfen werden können. Dabei kann man mit S. Freud den «Primärvorgang» vom «Sekundärvorgang» trennen. Im Primärvorgang sind die Vorstellungen noch nach den Kraftlinien von Gefühlen und .Wünschen geordnet, wobei auch in Wirklichkeit unvereinbare Phantasien nebeneinander bestehen können. Im Sekundärvorgang werden die logischen Ordnungen auf den Primärvorgang angewendet und dadurch ein wirklichkeitsgerechtes Bild hergestellt. Die Primärvorgänge sind den Gefühlen näher; weil sie noch nicht Wirklichkeitsgerecht geordnet sind, können sie gewissermaßen ein viel größeres Feld von Verhaltensmöglichkeiten vorentwerfen als die logisch überprüften Sekundärvorgänge. In diesem weiten Feld finden sich allerdings auch Wünsche und sie verkörpernde Vorstellungen, die verdrängt werden müssen. Unter sehr einengenden Erziehungsbedingungen kann ein Mensch den Zugang zu seinen Primärprozessen weit-ehend verlieren; seine Gefühlsmög-ichkeiten verarmen, desgleichen seine chöpferischen Fähigkeiten. Daher versucht man besonders in den En-counter-Gruppcn und in der Gestalttherapie gezielt die Phantasietätigkeit zu üben und anzuregen; das gleiche geschieht in einer Psychoanalyse.

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