Grenzgebiet von Medizin, Psychologie und Psychotherapie, das sich mit den seelisch bedingten oder mitbedingten, körperlichen Erkrankungen befaßt. Die Psychosomatik geht auf uralte medizinische Überlieferungen (vor allem der von Magie bestimmten Heilkunde der primitiven Medizinmänner) zurück, erhielt ihre wichtigsten Anregungen aber von der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie.
Im Lauf der Forschung fanden sich (mindestens) zwei grundlegende Mechanismen bei psychosomatischen Krankheiten: 1. DieKonversion, bei der Teile des Organismus, die sonst willkürlich beherrschbar sind, durch unbewußte Kräfte gestört werden (Lähmung, Blindheit, Schluckvorgang, plötzlich auftretende Krämpfe). 2. Die «vegetative Neurose» (F. Alexander), eine Körperreaktion auf immer wiederkehrende Gefühlszu-stände, die gewissermaßen den Organismus so lange unter Druck setzen, bis er an einer schwachen Stelle mit einer Krankheit «entgegenkommt». Als typische Fälle für eine psychosomatische Betrachtungsweise gelten: Magengeschwüre, Bronchialasthma, Schlaflosigkeit, Fett- oder Magersucht, Menstruationsbeschwerden, Muskelrheuma, zahlreiche Fälle von Kopfweh, erhöhte Anfälligkeit für Infektionen und vieles andere mehr. Insgesamt sind nach verschiedenen Schätzungen zwischen 30 und 60 Prozent der Patienten einer allgemeinärztlichen Praxis psychosomatisch erkrankt. In diesen Fällen ist (vor allem bei längere Zeit auftretenden Symptomen) die rein medizinische Behandlung (auch die mit Psychopharmaka oder Kuren) nicht erfolgreich. Sie müßte durch psychotherapeutische Maßnahmen ergänzt werden, um die ständigen Rückfälle zu vermindern.
Die Psychosomatik (oder Psychosomatische Medizin) kann als die Lehre von den körperlich-seelisch-sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung, im Verlauf und in der Behandlung von menschlichen Krankheiten verstanden werden (Hoffmann & Hochapfel, 1995). Der Begriff umfaßt drei Bereiche:1) Eine ärztliche Grundeinstellung, die von einem ganzheitlichen Menschenbild ausgehend bei der Diagnostik und Therapie von Krankheiten seelische und soziale Faktoren mitberücksichtigt.2) Eine Forschungsrichtung, die mit biologischen, psychologischen und sozialen Methoden die Bedeutung seelischer und sozialer Vorgänge für die Entstehung, Erhaltung und Therapie von körperlichen Krankheiten untersucht. 3) Ein Gebiet psychotherapeutischer Versorgung von Patienten, deren Beschwerden von rein psychogenen Störungen über psychosomatische Krankheitsbilder im engeren Sinne bis zu den Folgezuständen schwerer und chronischer körperlicher Krankheiten reicht. Der Begriff psychosomatisch wurde zwar erst 1818 von J. Heinroth eingeführt, aber schon seit Alters her wird eine Lösung für das Leib-Seele-Problem gesucht. Die Trennung von Leib und Seele, Körper und Geist stellt eine abendländische Eigenart dar, die dazu führt, daß die Vorstellungen vom Körper instrumentalisiert werden, so daß der menschliche Körper wie die Natur beherrscht werden soll.
Im Krankheitsverständnis der Psychosomatischen Medizin geht es um Störungen des bio-psycho-sozialen Zusammenhangs, die mit dem Modell der systemischen Wechselwirkungen erfaßt werden, indem der Organismus über soziale, psychische, physiologische und physikalische Vorgänge im Austausch mit der Umwelt steht und sich psycho-somatische und somato-psychische Prozesse gegenseitig bedingen (Adler et al., 1996) In psychosomatischen Regelkreisen steht das seelische Erleben damit in einer engen wechselseitigen Beziehung mit den rein körperlichen Vorgängen, vermittelt durch das Zentralnervensystem, das Immunsystem und das endokrine System (Psychoneuroimmunologie, Psychoneuroimmunologie) und vieles andere mehr (Weiner, 1991). Da prinzipiell bei jeder körperlichen Erkrankung somatische, psychische und soziale Faktoren zusammenwirken, ist die Bezeichnung Psychosomatische Krankheit für eine umgrenzte Gruppe von Störungen vorbehalten, bei denen seelische Faktoren maßgeblich zu Entstehung und Verlauf der Krankheit beitragen. Das typische psychosomatische Krankheitsspektrum umfaßt das Ulcus ventriculi und duodeni, die Colitis ulcerosa, die Crohnsche Krankheit, das Asthma bronchiale, die essentielle Hypertonie, die rheumatoide Arthritis, die Neurodermitis und die Eßstörungen (Studt & Petzhold, 1999).
Stellenwert der Psychosomatik
Die Mehrheit von Patienten mit häufigen körperlichen Beschwerden hat bei eingehender Untersuchung keinen körperlichen Befund, der diese Beschwerden ausreichend erklärt. Von funktionellen Beschwerden wird dann gesprochen, wenn trotz körperlicher Symptomatik kein pathophysiologisches Korrelat feststellbar ist. Aber auch wenn ein erheblicher pathologischer Befund besteht, müssen Patienten daran nicht notwendig leiden. Um die Häufigkeit psychogener Erkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland genauer zu bestimmen, wurden verschiedene repräsentative epidemiologische Untersuchungen vorgenommen (Adler et al., 1996). In der Erwachsenen-Bevölkerung im ländlichen Bereich fand man bei 26,4 % eine neurotische oder psychosomatische Erkrankung; in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zwischen 1979 und 1983 in Mannheim eine Punktprävalenz von 26 % mit schwerwiegenden psychogenen Beeinträchtigungen, davon wiesen 11,7 % psychosomatisch-funktionelle Störungen auf. In einer Follow-up-Untersuchung wurden zwischen 1983 und 1985 die wesentlichen Befunde dieser Studie repliziert. Nach der soziodemographischen Zusammensetzung scheinen funktionelle Beschwerden Männer seltener zu betreffen als Frauen, jüngere und ältere Jahrgänge seltener als die mittleren und die oberen Sozialschichten seltener als die unteren. Die Gründe hierfür sind bisher weitgehend unklar, könnten allerdings durch Krankheitsverhalten und Struktur unserer Gesundheitsversorgung mitbeeinflußt sein.
Psychosomatische Modelle
1) Konversionsmodell: In den Studien zur Hysterie beschrieben Freud und Breuer einen grundlegenden Mechanismus, bei dem es zu einer libidinösen Abfuhr kommt, indem unbewußte und verdrängte Vorstellungen durch eine Somatisierung vom Bewußtsein ferngehalten werden. Wegen des symbolischen Ausdrucksgehalts wird auch von Ausdruckskrankheiten gesprochen.
2) Theorie krankheitsspezifischer psychodynamischer Konflikte: Einer der Begründer der modernen Psychosomatik, Alexander, beschrieb die vegetative Neurose (Organneurose), die sich in körperlichen Symptomen als funktionelle Begleiterscheinungen von chronisch unterdrückten emotionalen Spannungen äußert, wobei die Arbeitsteilung zwischen dem parasympathischen und dem sympathischen Anteil des Nervensystems gestört ist. Die spezifische Symptomwahl ist in der Art des Konflikts, der Konstitution und der lebensgeschichtlich bedingten Anfälligkeit bestimmter Organsysteme begründet.
3) Theorie der De- und Resomatisierung: Schur beschreibt die normale Entwicklung und Reifung des gesunden Kindes als einen fortlaufenden Prozeß der Desomatisierung. In der Säuglings- und Kleinkindsphase sind die psychischen und somatischen Strukturen noch unentwickelt, so daß auf Störungen der Homöostase nur unkoordinierte, unbewußte, primärprozeßhafte und körperliche Reaktionen möglich sind. Erst die zunehmende Reifung und Strukturierung des Ichs erlaubt psychisch bewußtere, sekundärprozeßhafte Verarbeitungsformen. Unter bestimmten Bedingungen ist dieser Reifungsvorgang umkehrbar: Wenn bestimmte innere oder äußere Gefahren die subjektiven Bewältigungsmöglichkeiten überfordern, so führt die dadurch entstehende Angst zu einer Regression mit somatischen Reaktionen, die Schur als Resomatisierung bezeichnete. Ein somatisches Entgegenkommen in Folge einer Organminderwertigkeit kann die Wahl des Symptoms bestimmen.
4) Konzept der zweiphasigen Verdrängung: In engem Zusammenhang mit dem Konzept der De- und Resomatisierung entstehen nach Mitscherlich psychosomatische Störungen, wenn die psychischen Mittel der Konfliktbewältigung nicht mehr ausreichen und das Ausweichen ins Körperliche einen Lösungsversuch darstellt. Die erste Phase des Bewältigungsversuchs einer chronischen Belastung besteht in der Mobilisierung psychischer Abwehrkräfte mittels neurotischer Symptombildung um den Preis der Einengung des Ichs. Kann das eingeschränkte Ich die weiter anhaltende Dauerbelastung nicht mehr bewältigen, erfolgt die zweite Phase der Verdrängung, die eine Verschiebung in körperliche Abwehrvorgänge zur Folge hat und zur Ausbildung eines körperlichen Symptoms führt. In der psychotherapeutischen Bearbeitung treten die psychischen Inhalte wieder zutage, wenn die körperliche Symptomatik aufgegeben werden kann.
5) Alexithymie-Modell: Der Begriff Alexithymie kennzeichnet nach Sifneos sowie Marty und de M´Uzan die Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und über sie zu sprechen. Patienten mit psychosomatischen Krankheiten besitzen danach eine spezifische Persönlichkeitsstruktur mit einer charakteristischen Denkstörung, dem operationalen Denken, das sich in der Armut an seelischen Inhalten, ihrer schlechten sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und dem Mangel an Phantasien zeigt. Die Somatisierung tritt als Folge der psychosomatischen Regression mit aggressiven und autoaggressiven Tendenzen auf.
6) Biosemiotik: Von Uexküll sieht die Medizin im 20. Jahrhundert noch immer einem naturwissenschaftlichen Verständnis verpflichtet, in dem der Mensch nach dem Modell einer trivialen Maschine verstanden wird, so daß die Phänomene entsprechend ihrer mechanischen Veränderungen interpretieren werden und ihre Bedeutung für das Leben des Systems unbeachtet bleibt. Die körperlichen, seelischen und sozialen Prozesse in den Systemen und Subsystemen sind mittels Bedeutungskopplungen miteinander verbunden, indem die Zeichen des einen Systems auf die anderen übersetzt werden. Dadurch wird der Leib-Seele-Dualismus gelöst, weil körperliche und psychische Prozesse nicht mehr aus verschiedenen Seinsweisen bestehen, sondern Systemebenen, deren jeweilige Zeichensysteme über Umwandlungen verkoppelt sind (Leib-Seele-Problem).
7) Lerntheoretisches Konzept: Störungen in praktisch allen Organsystemen lassen sich sowohl in ihrer Entwicklung, als auch der Aufrechterhaltung als fehlgeleitete Lern- und Konditionierungsprozesse verstehen (Konditionierung). Die unkonditionierten Reflexe und die durch sie ausgelöste unkonditionierte oder respondente Verhaltensreaktion ist jeweils durch die individuelle physiologische Grundausstattung determiniert. Neben diesen unkonditionierten Reaktionsabläufen können auch klassische konditionale Reaktionen erfolgen, indem ein konditionierter und ein unkonditionierter Reiz wiederholt miteinander verknüpft wird. So kann z.B. durch den bloßen Anblick eines Inhalationsgerätes ein Asthmaanfall bei einem Kind ausgelöst werden. Störungen können durch positive (wie die liebevolle Zuwendung der Mutter) oder negative Verstärkung (wie die Vermeidung einer Klassenarbeit) aufrechterhalten werden. Neben diesen Prinzipien dient auch das Modellernen zur Klärung psychosomatischer Störungen.
8) Streßkonzept: Bereits 1929 ging Cannon davon aus, daß aversive Reize eine phylogenetische alte Kampf-Fluchtreaktion auslösen, bei der der Organismus Energie für eine schnelle und intensive Reaktion bereitstellt. Anhaltend hohe Erregung des autonomen Nervensystems führt danach zu irreparablen Schäden. Selye verstand Streß als eine sehr komplexe Reaktion auf belastende Faktoren, die unspezifisch, aber auch individualspezifisch sein können (allgemeines Adaptationssyndrom). Den daraus entstehenden psychosomatischen Adaptationskrankheiten (z.B. Hypertonie, Asthma, Rheuma, allergische Reaktionen) ist gemeinsam, daß auf an sich nur potentiell schädliche Einwirkungen wegen der inadäquaten Anpassungsversuche die Gesamtsituation weiter verschlechtert wird. Das unterschiedlich erfolgreiche Bewältigungsverhalten (Coping) bekommt damit eine große Bedeutung für die Genese und Chronifizierung von Krankheiten. Sowohl Überstimulation als auch Unterstimulation im Sinne einer Deprivation kann zu erhöhter Streßreagibilität und Vulnerabilität im späteren Leben führen.
Methoden der Psychotherapie bei der Behandlung psychomatischer Störungen
1) In psychoanalytisch orientierten Behandlungen wird der zu Grunde liegende unbewußte psychische Konflikt wiederbelebt und bearbeitet. Förderlich für eine Behandlung ist eine ausreichende Flexibilität und Ich-Stärke des Patienten, der hinlänglich seelischen Leidensdruck verspürt, Einsicht in die Psychogenese der Störung hat und genügend Fähigkeiten zur Introspektion erkennen läßt. Da die meisten Patienten mit ich-strukturellen Störungen diese Voraussetzungen nicht erfüllen, sind verschiedene Modifikationen eingeführt worden, die auf eine Stärkung des Selbst des Patienten abzielen. Bei der zeitgemäßen Anwendung psychoanalytischer Verfahren wird objektbeziehungstheoretischen und interaktionellen Aspekten der Behandlung sowie der Übertragung und Gegenübertragung die größte Bedeutung beigemessen. Die besondere Abhängigkeit von wichtigen anderen drückt sich in Selbstobjekt-Beziehungen aus, wobei es sich um neue oder in der Übertragung wiederbelebte Objekterfahrungen handelt, die die innere Kohärenz fördern und die psychische Fähigkeit zur Regulation physiologischer Abläufe stärken (Psychoanalyse). 2) In der Verhaltenstherapie wird durch Anwendung lerntheoretisch begründeter Verfahren die psychosomatische Störung auf der organisch-physiologischen, der motorisch-verhaltensmäßigen und der subjektiv-erlebnismäßigen Ebene beeinflußt. In Abhängigkeit von den jeweiligen Entstehungsbedingungen wird durch eine Verhaltensanalyse den einzelnen Aspekten eine unterschiedliche Bedeutung zugeordnet. Zu den wichtigsten verhaltenstherapeutischen Verfahren gehören Entspannungs-, Desensibilisierungs-, Biofeedbackverfahren, Selbstsicherheits- und Verhaltenstraining, Selbstkontrolltechniken sowie Verfahren zur Selbstinstruktion und zur kognitiven Umstrukturierung. 3) Suggestive und übende Verfahren gehören zu den ältesten und auch am häufigsten angewandten Heilverfahren, zu denen die Hypnose und verschiedene wachsuggestive Verfahren gehören. Den übenden Verfahren liegt die Vorstellung zu Grunde, daß psychosomatische Störungen mit einer erhöhten Aktivität des sympathischen Nervensystems einhergehen. Die am häufigsten angewandten Verfahren sind das autogene Training, die progressive Muskelentspannung und die konzentrative Bewegungstherapie, wobei es sich um symptomorientierte Behandlungen handelt, die die zu Grunde liegenden psychischen Faktoren weitgehend unberücksichtigt lassen und deshalb mit psychotherapeutischen Verfahren kombiniert werden sollten.
Ausblick
Im Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das somatische, psychische und soziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigt, hat die Psychosomatik die ihr zukommende Bedeutung in der Forschung und ärztlich-psychologischen Praxis bisher noch nicht erlangt. Die psychosozialen Bedingungen in der Entstehung, Erhaltung und Therapie von Krankheiten werden häufig nur als eine medizinische Restkategorie aufgefaßt, wenn alle Untersuchungen des Körperlichen die Beschwerden immer noch nicht erklären können (Hoffmann & Hochapfel, 1995). Häufig vergehen Jahre, bis die Patienten die notwendige fachpsychotherapeutische Behandlung ihrer psychosomatischen Beschwerden erhalten, und nicht selten werden sie von Ärzten darin eher behindert als gefördert. Es bleibt zu hoffen, daß das kürzlich eingeführte Psychotherapeutengesetzes in den kommenden Jahren den Stellenwert psychosomatischer Behandlungen verbessert.
Literatur
Adler, R.A., Herrmann, J.M., Köhle, K., Schonecke, O.W., Uexküll, Th. Von & Wesiack, W. (1996). In Th. Uexküll (Hrsg.), Psychosomatische Medizin (5. Aufl.). München: Urban und Schwarzenberg.
Hoffmann, S.O., Hochapfel, G. (1995). Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin (5. Aufl.). Stuttgart: Schattauer.
Studt, H. H., Petzhold , E. R. (1999). Psychotherapeutische Medizin: Psychoanalyse Psychosomatik Psychotherapie; ein Leitfaden für Klinik und Praxis. Berlin: Walter de Gruyter.
Weiner, H. (1991). Der Organismus als leib-seelische Funktionseinheit Folgerungen für eine psychosomatische Medizin. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 41, 465-481.
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