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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Geborgenheit

Autor
Autor:
Katharina Weinberger

eines der Grundbedürfnisse des Menschen. Das unbewußte Vorbild aller Geborgenheit ist der Schutz des Ungeborenen im Mutterleib. Jeden Tag wenden wir uns neu vom Zwang zur Aktivität ab und suchen die vollkommene Ruhe im Schlaf. Dabei nehmen viele Menschen unwillkürlich wieder die Haltung wie im Mutterleib an. Als sich Menschen vor den Unbilden des Wetters in Höhlen zurückzuziehen begannen, haben sie gewiß diese Zuflucht als Abbild des Mutterleibes erlebt. Noch heute empfinden wir einen Raum als gemütlich, wenn wir uns in ihm wie in einer Höhle abkapseln und einkuscheln können. Große, ungestaltete Räume stimmen uns dagegen unbehaglich. In der sexuellen Vereinigung suchen wir außer der sinnlichen Lust und der Erlösung von Spannungen auch die Hingabe, die Anklammerung, die Verschmelzung und Frieden. Das ähnelt dem Tod, einer Rücckehr in den Zustand vor der Geburt, der uns manchmal in den Nöten des Lebens als einzige wirkliche Geborgenheit erscheint. Das ist auch ein Aspekt, der für Freuds Annahme eines Todestriebes zu bedenken ist. Aber unserer Sehnsucht nach Geborgenheit steht immer, solange wir am Leben festhalten, das Verlangen nach Reizen entgegen, so wie sich etwa in der Politik das Bedürfnis nach Sicherheit mit dem nach Freiheit streitet. Wir suchen Geborgenheit zum Beispiel in einer Religion, deren Zeremonien doch auch Reize bieten sollen. Wir suchen Geborgenheit in einer Masse, die uns doch zu einer neuen, gefährlichen Tätigkeit hinreißen könnte. Viele suchen Geborgenheit in einer Fixierung, die doch zur Sucht wird – zu einer endlosen Jagd nach den Reizen, an die sie gebunden ist. Manche suchen Geborgenheit sogar in einer Krankheit, deren Leiden doch nach Überwindung verlangen. Heute ist es schwieriger als früher, eine gewisse Geborgenheit zu finden. Die Religion hat an Bedeutung und Strahlkraft verloren. Zu viele Ideologien haben sich als verlogen oder lebensgefährlich erwiesen, als daß Weltanschauungen noch überzeugend sein könnten. Auch die Geborgenheit in der Familie ist unter modernen Lebensverhältnissen infrage gestellt. Die sogenannte sexuelle Befreiung hat zwar viele der Hemmungen abgebaut, die früher der Lusterfahrung entgegenstanden, aber der »Sex« schließt das Verlangen nach persönlicher Bindung als Geborgenheit so gut wie überhaupt nicht ein. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, der noch vor einer Gene-ration fast paradiesische Hoffnungen weckte, erscheint heute beinahe eher als Bedrohung. Als Geborgenheit angeboten wird fast nur die Anpassung in die Massengesellschaft. Das einzige wirkliche Gegenmittel gegen die Unbehaustheit ist das persönliche Engagement aus eigner Entscheidung, die freiwillige Bindung an ein Ziel oder an Menschen.

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