ist »geronnene Bewegung«. In ihr sind die Gefühlsschwankungen fixiert, die den Menschen beim Schreiben bewegt haben. Die Schrift folgt zugleich einer Gewohnheit, die sich mit der übrigen Entwicklung des Verhaltens und Empfindens herausgebildet hat, seit wir schreiben lernten. Da das Schreiben weitgehend automatisch geworden ist, wir es also kaum noch bewußt kontrollieren, kann sich in der Handschrift vieles ausdrücken, was wir anders nie sagen würden, vielleicht nicht einmal uns selbst. Je mehr ein Mensch schreibt, desto individueller wird seine Handschrift. Je flüssiger sie ist, desto mehr verrät sie. Es sind die persönlichen Abweichungen von der gelernten Norm, die etwas besagen. So hat man schon sehr früh versucht, eine Methode zu entwickeln, nach der man aus der Handschrift auf geistige und seelische Ei genschaften des Schreibers schließen könnte. Die ersten Graphologen der Neuzeit, so die Franzosen J. H. Michon und J. Crepieux-Jamin, klammerten sich noch an die Deutung einzelner Zeichen. Die moderne Graphologie hat, vor allem unter dem Einfluß des deutschen Philosophen Ludwig Klages (t 1956), die Zusammenhänge zu sehen gelernt. Wichtige Kriterien sind: die Verteilung der Schrift auf dem Papier, der Druck (der sich bei der Benutzung eines harten Bleistifts oder eines Kugelschreibers nicht erkennen läßt), die Bindung oder Vereinzelung der Buchstaben, die Betonung der Ober oder Unterlängen (die manchmal als Zeichen für die höheren, geistigen bzw. für die mehr triebhaften Kräfte verstanden werden), die offenen oder geschlossenen Bögen, der Schwung oder die Zaghaftigkeit bei t-Strichen, u-Haken und i-Punkten. In der Ausgestaltung einzelner Zeichen glauben manche Graphologen Symbol-Darstellungen erkennen zu können. So hat man einmal in der hinterlassenen Botschaft eines Selbstmörders die (unbewußte) Zeichnung eines Revolvers entdeckt. Besonders auffällig ist der Rhythmus einer Handschrift, der dem typischen Ablauf eines Temperamentes entspricht. Obwohl die Graphologie sogar von manchen Unternehmen zur Beurteilung von Stellenbewerbern benutzt wird, ist die Deutung doch von einer quasi-künstlerischen abhängig. Nur systematische Erfahrung sichert gegen gefühlsbedingte Fehldeutungen ab. Zur Deutung ungeeignet ist im allgemeinen die Unterschrift, obwohl gerade sie wegen ihrer Eigenart als rechtsverbindlich gilt. Besonders bei Menschen, die oft unterschreiben müssen, ist sie zu einer Formel erstarrt, die eher besagt, wie der Schreiber eingeschätzt werden möchte, als wie er wirklich ist. Um sich ein Bild von einem Menschen zu machen, sollte man nicht nur nach seiner Handschrift gehen, sondern deren Deutung durch andere Eindrücke (etwa im Gespräch) ergänzen und korrigieren.
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