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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Heilig

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

unverletzlich, durch eine Gottheit geschützt. Was für heilig erklärt worden ist, soll jeder Kritik ent zogen sein. Deshalb kann die Heiligkeit auch nicht begründet werden außer durch die Berufung auf eine Tradition, die einmal durch eine göttliche Offenbarung begonnen haben soll. Ähnlich wie das Tabu legt die Heiligkeit außer der Verehrung auch ein Verbot fest. Wer immer eine Regel oder einen Machtanspruch gegen jeden Zweifel sichern will, wird dafür oft ein heiliges Recht behaupten. Solche Postulate befreien alle, die an sie glauben, von den Mühen und Qualen eigenen Nachdenkens. Was die Religionen heilig nennen, scheint zwar durch eine lange Tradition gewürdigt, aber auch die religiösen Begriffe haben sich im Laufe der Zeit stark geändert. Was einer Konfession als heilig gilt, ist für eine andere unwichtig geworden oder wird sogar abgelehnt. Die Bemühung, irgendetwas für unwandelbar zu erkennen und vor allem der Prüfung durch den Verstand zu entziehen, ist letzten Endes stets vergeblich. Wie das Tabu ist das Heilige ansteckend. Wer innig mit ihm zu tun hat, erwirbt selbst einen Anteil daran. Als »Heilige« ragen einige Personen hervor, die ihr Leben ganz in den Dienst ihres Glaubens und den der Mitmenschen gestellt haben. Manche sind für ihre Überzeugung als Märtyrer in den Tod gegangen. Vielen von ihnen sagt man Wunder nach, also streng genommen eine Überwindung der Naturgesetze. Hinter allen Legenden, die sich um sie gerankt haben, kann man vermuten, daß sie eine große Ausstrahlungskraft auf ihre Umgebung, ein Charisma, besessen haben. Aus dieser Strahlkraft lassen sich vielleicht auch die Wunderheilungen verstehen, die möglicherweise auf psychotherapeutischen Wirkungen beruhten. Zum Wesen der Heiligen scheint ein ungewöhnliches Maß an Triebbeherrschung, an Sublimierung der Sexualität zu Menschen und Gottes-liebe, an Verwandlung der Aggression in Mitleid und Leidensbereitschaft zu gehören. Die Triebunterdrückung verriet sich oft in Symptomen, wie man sie ähnlich bei der Hysterie beobachten kann. In Visionen der Versuchung (wie beim heiligen Antonius) oder Beseeligung (wie Theresia von Avila) setzte sich die sexuelle Begierde wieder durch. Viele Heilige sind es geworden, nachdem sie zuvor ein Leben in Reichtum und sinnlichem Genuß geführt hatten; ihre Bekehrung erwuchs aus Enttäuschung und Schuldgefühl. Der Heilige kann seiner »Berufung« nur folgen, indem er sich weitgehend vom gewöhnlichen Leben abwendet. Seine Mitwelt empfindet ihn als Sonderling, vielleicht als Verrückten, vielleicht als Rebellen und gar als Verbrecher.

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