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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Raumwahrnehmung nicht-euklidische

Autor
Autor:
Katharina Weinberger

betrifft das Phänomen, daß die bei beidäugiger Betrachtung gesehenen räumlichen Beziehungen der Wahrnehmungsgegenstände zueinander durch eine nicht-euklidische Geometrie beschreibbar sind. Die Formulierung einer geometrischen Theorie des Sehraums (Raumwahrnehmung) scheint nahe zu liegen, da viele geometrische Eigenschaften und Relationen unmittelbar wahrgenommen werden können (z.B. daß Punkte eine gesehene Gerade bilden). Die Anschauung spielte auch bei der Grundlegung der Geometrie in Euklids “Optik” (etwa 300 v. Chr.) eine entscheidende Rolle, so daß diese als erste Theorie der Raumwahrnehmung angesehen wird. Die enge Beziehung zwischen Anschauung und euklidischer Geometrie hat sogar dazu geführt, daß diese bis Anfang des 19. Jahrhunderts als einzig denkbare Geometrie galt. Erst Rudolf K. Luneburg (1947) brachte eine Reihe von gesicherten empirischen Phänomenen mit einer nicht-euklidischen Struktur des Sehraums in Verbindung, wobei er annahm, daß die Geodätischen der Geometrie (d.h. die kürzesten Kurven zwischen Punkten) durch die gesehenen Geraden gebildet werden. Bereits seit Helmholtz (1867) ist dabei bekannt, daß die Anordnung von Punkten, die auf einer Geraden liegend gesehen werden, in systematischer Weise von einer physikalischen Geraden abweicht. Zusätzlich postuliert Luneburg die Eigenschaft der “freien Beweglichkeit”, worin gefordert wird, daß Lageveränderungen unabhängig von Formveränderungen durchgeführt werden können: Zu einem beliebig vorgegebenen Objekt kann an jedem Ort und in jeder Orientierung ein gleich aussehendes Objekt hergestellt werden. Die freie Beweglichkeit schränkt die prinzipiell möglichen Geometrien auf die so genannten Riemannschen Geometrien konstanter Gaußscher Krümmung ein. Diese kann man sich als die Geometrien vorstellen, die auf bestimmten, in den dreidimensionalen Raum eingebetteten Flächen gelten. Neben der euklidischen Geometrie (der ebenen Fläche) zählen hierzu lediglich die elliptische oder sphärische Geometrie (der Kugeloberfläche) und die hyperbolische Geometrie (der Sattelfläche). Die Alleen-Experimente von Hillebrand (1902) und Blumenfeld (1913) wertete Luneburg als Indiz für das Vorliegen einer hyperbolischen Geometrie. Werden ausgehend von symmetrisch zur Sagittalebene dargebotenen Referenzpunkten Punktepaare so angeordnet, daß sich parallel zur Richtung geradeaus verlaufende gesehene Geraden ergeben (Parallel-Alleen), so liegen diese physikalisch innerhalb der Distanz-Alleen, bei der die Punkte jeweils die gleiche gesehene Distanz zueinander aufweisen. Da parallele Geodätische in der euklidischen Geometrie konstanten Abstand voneinander haben, müßten Parallel- und Distanz-Alleen unter dieser Annahme übereinstimmen. Obwohl die Theorie eines nicht-euklidischen Sehraums nicht unwidersprochen blieb, wird sie durch weitere experimentelle Untersuchungen gestützt. Die Annahme der freien Beweglichkeit wird jedoch kontrovers diskutiert und so wurden auch allgemeinere nicht-euklidische Geometrien zur Beschreibung der Raumwahrnehmung vorgeschlagen.

Literatur

Lukas, J. (1996). Psychophysik der Raumwahrnehmung. Weinheim: Psychologie Verlags Union.


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