Sie befaßt sich mit den Differenzen, den Unterschieden zwischen den einzelnen Menschen und ihren Eigenschaften. Die frühesten Formen der differen-tiellen Psychologie sind die an Geschlechtsunterschiede oder Rassenunterschiede geknüpften Vermutungen über seelische Unterschiede. Während die naive Unterscheidung menschlicher Charaktere gern mit Alternativen und Extremformeln arbeitet (dumm-gescheit, stark-schwach, gefühlvoll -gefühllos, frech - brav), zeigt die Forschung in der differentiel-len Psychologie fast immer einen stufenweisen Übergang, wobei sich der Ausprägungsgrad der Eigenschaften bei Tieren und Menschen entlang einer kontinuierlichen Skala verteilt, die im typischen Fall die Form einer Glockenkurve (Gaußsche Normalverteilung) annimmt: Die meisten Geprüften sind dabei durchschnittlich intelligent, während die Extrempositionen (sehr wenig intelligent - weit überdurchschnittlich intelligent) nur von jeweils wenigen Prüflingen eingenommen werden.
Die Unterschiede zwischen den Menschen, mit denen sich die differentielle Psychologie befaßt, können durch zwei große Einflußwege entstehen: durch die Erbanlagen und durch Umwelteinflüsse (Erbe/Umwelt-Problem, Lernen). In der Beurteilung des Gewichts dieser Faktoren bestehen bis heute erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Man kann davon ausgehen, daß in den letzten hundert Jahren viele menschliche Merkmale, die man früher für ererbt hielt, als umweltbedingt erkannt worden sind. Die Vermutung einer «angeborenen» Eigenschaft diente oft genug dazu, Unwissen zu verschleiern und eine genauere Analyse aufzugeben, wenn sich nur dieselbe Eigenschaft auch bei den Eltern eines Betroffenen fand. Man geht heute meist davon aus, daß die Vererbung - krankhafte Extreme ausgenommen - einen relativ breiten Entwicklungsspielraum absteckt, innerhalb dessen der Umwelteinfluß darüber entscheidet, was sich herausbildet. Wichtigstes Instrument dieser Forschung ist die Zwillingsforschung. Eineiige Zwillinge haben praktisch dieselben Erbanlagen. Hier sind alle Unterschiede sicher umweltbedingt, während die Gemeinsamkeiten keineswegs erbbedingt sein müssen (da eineiige Zwillinge ja meist in einer ähnlichen Umwelt aufwachsen); nur wenn die Umwelteinflüsse bei beiden Zwillingen sehr unterschiedlich waren, kann man Gemeinsamkeiten mit einigem Recht und nach entsprechend kritischer Prüfung als erbbedingt ansehen. Die Zwillingsstudien haben gezeigt, daß äußere Körpermerkmale (Haarfarbe, Augenfarbe, Gesichtszüge) weitgehend ererbt sind, während seelische Merkmale ebenso weitgehend auf Umwelteinflüssen beruhen. Die Persönlichkeitseigenschaften eineiiger Zwillinge sind recht verschieden. Ein wichtiges Hilfsmittel, um Unterschiede zwischen Individuen zu erfassen, sind die psychologischen Tests. Ergebnisse solcher Untersuchungen enttäuschen durchweg alle Betrachter, die sich anmaßen, von einfachen Gruppenzugehörigkeiten (Mann - Frau, Weißer - Schwarzer, Arbeiter - Akademiker) auf Persönlichkeitseigenschaften zu schließen. Ähnlich wie schon in Experimenten zur Lernfähigkeit von Tieren eine am oberen Ende der Variationsbreite stehende Ratte besser lernt als ein wenig «begabter» Schimpanse (obwohl Schimpansen zweifellos viel klüger sind als Ratten, vorausgesetzt, man akzeptiert die Meßmethoden der Psychologen über tierische Intelligenz), sind auch in allen naiven Typenlehren die Unterschiede innerhalb der Gruppen weit größer als die zwischen den Gruppen. Das gilt beispielsweise für den Vergleich der Intelligenztestergebnisse von schwarzen und weißen Amerikanern oder für den Vergleich der Persönlichkeitsunterschiede zwischen Männern und Frauen.
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