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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Konservatismus

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms

eine Art "Zwillingskonzept", das ohne das Liberalismus-Konzept nicht auszukommen scheint. Beide Konzepte werden in der Regel zur Kennzeichnung individueller oder gruppenspezifischer Ideologien bezeichnet, wobei implizit mit Konservatismus ein Widerstand gegenüber Veränderungen und mit Liberalismus eine Veränderungsbereitschaft oder Öffnung gegenüber Neuem gemeint wird. Versteht man sie als die beiden Endpunkte einer eindimensionalen Skala, so zeigt sich schnell, daß es nicht ausreicht, Konservatismus bzw. Liberalismus als die Abwesenheit der Merkmale des jeweils anderen Konzepts zu verstehen. Nach Kerlinger (1984) ist "Konservatismus eine Gruppe (set) politischer, ökonomischer, religiöser, bildungspolitischer und anderer sozialer Überzeugungen, in denen der status quo, soziale Stabilität, Religion und Moral, Freiheit und Liberalität die natürliche Ungleichheit der Menschen, die Ungewißheit des Fortschritts und die Begrenztheit der menschlichen Vernunft besonders betont wird. Weitere Merkmale sind Mißtrauen gegenüber der Volksdemokratie und Mehrheitsabstimmungen, andererseits aber die Bejahung von Individualismus und individueller Initiative, die Unverletzlichkeit des Privateigentums und die zentrale Bedeutung von Wirtschaft und Handel." Kerlinger hat in seiner Strukturtheorie eine dualistische Konzeption von Liberalismus und Konservatismus entwickelt, d.h. Liberalismus und Konservatismus sind zwei voneinander unabhängige Dimensionen. Beide beziehen sich aber auf individuell bedeutsame Referenzgrößen, wie z.B. "Bürgerrechte", "Gewerkschaften", "Geburtenkontrolle", "freie Marktwirtschaft" und "Kirche", denen gegenüber der Einzelne unterschiedliche soziale Überzeugungen hat.

Diese schon relativ breit angelegte Konzeption von Konservatismus wird bei Wilson (1973) noch erweitert. In seiner dynamischen Theorie wird Konservatismus zu einer Persönlichkeitsdimension, mit deren Hilfe man sowohl die Tradierung wie die Entstehung von Einstellungen und Überzeugungen in sehr vielen inhaltlichen Bereichen erklären können soll. Militarismus, Rassismus, Dogmatismus, Konventionalismus sind einige der zahlreichen Facettten des Konservatismus-Syndroms, dessen allgemeine Grundlage eine generalisierte Furcht vor Unsicherheit ist (Wilson, 1973). Die unterschiedlichen Konzeptionen von Konservatismus und Liberalismus haben zu einer relativ umfangreichen Entwicklung von Skalen geführt, von denen die wichtigsten bei Knight (1999) zusammengestellt sind, die zusätzlich einen umfangreichen Überblick über die aktuelle Forschung gibt.

Die bei Knight für den Zeitraum von 1972 bis 1998 tabellierten Umfrageergebnisse großer amerikanischer Befragungsinstitute, bei den denen sich die Befragten auf einer Liberalismus-Konservatismus Skala selbst einstufen mußten, zeigten zwar nicht unbeträchtliche Unterschiede (die minimalen Konservatismus-Werte variierten zwischen 49 und 56%, die maximalen Werte zwischen 60 und 70%), dennoch verweisen die Ergebnisse auf einen zunehmenden konservativen Trend in den letzten ca. 30 Jahren. Derartige Ergebnisse verlieren allerdings schnell an ihrer einprägsamen Eindeutigkeit, wenn andererseits festzustellen ist, daß liberalere Einstellungen mit zunehmender formaler Bildung ansteigt und daß z.B. in den USA der Anteil der Bevölkerung mit College-Bildung von 17% im Jahre 1960 auf 52% im Jahr 1994 angestiegen ist. Die Befürworter der Rassenintegration in den USA hat stark zugenommen, diejenigen, die für eine Frau ins amerikanische Präsidentenamt stimmen würden, stieg von 1972 bis 1994 von 74% auf 92% an. Die unterschiedlichsten Auffassungen zwischen Liberalen und Konservativen (Knight, 1999, 147) bestehen in der Sexualmoral, der Gleichberechtigung von Mann und Frau vor dem Gesetz und der Legalisierung von Marihuana. Derartige Trends und Differenzen in den Reaktionen bei Massenumfragen unterstellen zum einen die valide Indikatorfunktion jeder einzelnen Frage für die globalen ideologischen Ausrichtungen, zum anderen verdeutlichen sie aber auch, wie sinnvoll es ist, von mehrdimensionalen Konstrukten auszugehen.

Literatur

Kerlinger, F. N. (1984). Liberalism and conservatism. Tha nature and structure of social attitudes. Hillsdale, N. J.: Lawrence Erlbaum.

Knight, K. (1999). Liberalism and conservatism. In J. P. Robinson, P. R. Shaver, & L. S Wrightsman (Eds.), Measures of political attitudes. San Diego, CA: Academic Press.

Wilson, G.D. (1973) (Ed.). The psychology of conservatism. London. Academic Press.


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