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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Totem

Autor
Autor:
Julia Schneider-Ermer

ein indianisches Wort, das soviel wie »Verwandtschaft« bedeutet. Als Totem wird auf früher Kulturstufe meist ein Tier, manchmal auch eine Pflanze, ein Stein oder ein Gestirn verehrt. Vor allem das Totem-Tier wird als Ahnherr des Stammes angesehen. Es darf nicht getötet werden, außer einmal im Jahr bei der feierlichen Totem-Mahlzeit, bei der es von allen Mitgliedern des Stammes gemeinsam verzehrt wird. Da sich alle Angehörigen des Clans als Geschwister-Kinder empfinden, dürfen sie untereinander nicht heiraten. In der Totem-Gesellschaft herrschte ein strenges Inzest-Tabu, das sich weit über die direkten Verwandtschaftsbeziehungen hinaus erstreckte. Es erzwang die Exogamie (Heirat in die Fremde). Freud sah in der Verquickung von »Totem und Tabu« ein historisches Vorbild, letztlich sogar den Ursprung des Oedipus-Konfliktes. Er nahm an, daß die ersten menschlichen Gemeinschaften kleine Horden waren, die jeweils von einem Vater absolut beherrscht wurden. Er beanspruchte alle Frauen für sich und bedrohte die sexuellen Ansprüche der Söhne mit Kastration. Irgendwann hätten sich die Brüder zusammengetan, um den tyrannischen Vater zu töten. Nach einer Übergangszeit, in der die Herrschaft den Müttern zufiel, hätten die jungen Männer eine Bruderschaft gebildet, in der einer von ihnen führte, jedoch nicht mehr mit unbeschränkter Autorität, sondern dank der Zustimmung der anderen. Aber da sie den Vater ja auch geliebt und verehrt hatten, gedachten sie seiner in der Gestalt des Totem-Tieres, das ihren Schutz genoß. Doch dann wieder erneuerten sie ihr Verbrechen als Opfer-Ritual. Gemeinsam vertieften sie die gemeinsame Schuld, die sie so stets aufs neue aneinander band. Indem sie das Totem-Tier aßen, nahmen sie den Geist des Vaters in sich auf; die Einverleibung stellte eine Identifikation dar. In einem nachträglichen Gehorsam gegen die Gebote des Vaters verzichteten sie auf die Frauen des Clans, um derentwillen sie doch eigentlich den Mord begangen hatten. Das Verbot, die Mutter oder die Schwestern zu begehren, wurde erneuert und als Tabu verinnerlicht. Nur so konnten sie die Rivalitäten untereinander verhindern, die ihre neue Brudergesellschaft gesprengt hätten. Gewisse Eigenheiten des Totem-Glaubens haben sich noch in den Hochreligionen erhalten. Die Ähnlichkeiten der rekonstruierten Frühgeschichte mit den Konflikten, die die frühkindliche Sexualentwicklung des Knaben abschließen, sind unverkennbar. Sogar die Übertragung der Gefühle dem Vater gegenüber auf ein Tier kommt vor, als Phobie.

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