die Untersuchung von Unfällen, Störfällen, Störungen oder Beinaheereignissen, die aufgrund hochkomplexer Systeme mit hohem Gefährdungspotential immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wie Untersuchungen von Katastrophen (z.B. der Reaktorunfall in Tschernobyl) zeigen, ist eine hoch komplexe Interaktion unterschiedlichster Faktoren an deren Entstehung beteiligt. Unfallanalysen dienen der Aufklärung dieser Interaktion, indem der Ereignishergang und seine Ursachen rekonstruiert werden ein Prozeß, der mit komplexem Problemlösen verglichen werden kann. Unfallanalysen können unterschiedliche Zielsetzungen haben, die dann auch den Umfang und die Tiefe der Analyse festlegen: a) Festlegung der Verantwortung, Identifizierung eines Schuldigen und Haftungsfrage: Die Unfallanalyse wird dann beendet, wenn eine zu vertretende Schuldzuschreibung vorgenommen werden kann. b) Management, Überprüfung der Sicherheitsmaßnahmen, Analyse vor allem der Beinaheereignisse sowie der Kontrolle und Überwachung des Sicherheitssystems: Die Analyse wird nur so lange fortgeführt, bis eine fehlende oder unzureichende Barriere identifiziert wird. c) Interesse an der Aufrechterhaltung eines Gefährdungsbewußtseins, Erstellung und Verbreitung von Unfall- bzw. Ereignisstatistiken: Es wird beendet, wenn eine bereits bekannte Gefährdungsquelle als unfallverursachend identifiziert wird. d) Unfallanalysen als Grundlage für ein Lernen aus Betriebserfahrungen und als Datenquellen zur Verbesserung probabilistischer Verfahren zur Risikoanalyse durchführen (Risiko): Hier zielt die Unfallanalyse auf Modellierung des komplexen Zusammenspiels bei der Ereignisentstehung durch die Identifizierung von kontribuierenden Faktoren für das Organisationale Lernen. Mit diesem Ziel wird die Analyse am weitesten fortgeführt und sollte erst dann enden, wenn keine neuen Erkenntnisse mehr gewonnen werden können.
Zumindest für Industrien mit hohem Gefährdungspotential existiert eine Reihe unterschiedlicher Unfallanalyseverfahren. Neuere Ereignisentstehungsmodelle sehen Ereignisse als multikausale Ereignissequenzen und gehen von einem notwendigen Zusammenspiel direkt wirkender Faktoren oder aktiver Fehler und indirekt wirkender Faktoren oder latenter Fehler aus, wobei den ersten eine Auslösefunktion zukommt und die zweiten unerkannt im System ereignisfördernd wirken. Latente Fehler oder indirekte Faktoren spiegeln organisationale Schwachstellen oder dysfunktionale Beziehungen zwischen Organisationen wider. Neu ist die explizite Betrachtung der Organisationsumwelt als Einflußfaktor auf die Entstehung von Ereignissen.
Unfallanalyseverfahren für die systematische Analyse unterscheiden sich sowohl in Hinblick auf die zugrundeliegenden Ereignisentstehungsmodelle als auch auf die Hilfen, die dem Analytiker an die Hand gegeben werden. So gehen einzelne Verfahren von einer zugrundliegenden Ursache "root cause" aus, andere Verfahren fördern die ldentifizierung von unterschiedlichen kontribuierenden Faktoren. Die Hilfe für die Analytiker wird beispielsweise in der Form von abzuarbeitenden Checklisten bzw. Unfallbäumen oder in Form von Fragen, die das Problemlösen der Analytiker unterstützen sollen operationalisiert.
Kritisch anzumerken ist vor allem, daß die wenigstens Verfahren wissenschaftlich entwickelt wurden, meistens sind die Analysemethoden in der Praxis entstanden. Dementsprechend sind auch kaum Untersuchungen zu ihren Gütekriterien zu finden.
Literatur
Fahlbruch, B. (2000). Vom Unfall zu den Ursachen. Empirische Bewertung von Analyseverfahren. Berlin: Mensch & Buch Verlag.
Fahlbruch, B. & Wilpert, B. (1999). System safety an emerging field for 1/0 psychologie. In C. L. Cooper, & 1. T. Robertson (Hrsg.), International Review of Industrial and Organizational Psychology (Vol. 14, S. 55-93). Chichester: Wiley.
Reason, J. (1997). Managing the risks of organizational accidents. Aldershot: Ashgate.
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