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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Verantwortung

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms





Begriffsbestimmung

Aus der Soziologie stammt der wichtige Hinweis, daß man Verantwortung nicht nur als Zuschreibung von Fähigkeiten an Personen verstehen sollte – etwa im Sinne von Verantwortungsbewußtsein oder der Kompetenz, mit widersprüchlichen Verantwortungsanforderungen umgehen zu können. Dieser Begriff bezieht sich ebenfalls auf “... die Zuschreibung an eine Position oder Rolle, deren Aufgabenspektrum durch einen erheblichen Handlungsspielraum und entsprechende selbständige Entscheidungszumutungen sowie hohes Folgenrisiko gekennzeichnet ist” (Kaufmann, 1989, S. 214 f.) (Handlungsregulation). Verantwortung kann also 1) als Merkmal von Personen und ihrer Persönlichkeit und 2) als Merkmal von Umwelten im Sinne sozialer Kontexte, Positionen, Rollen, Probleme, Situationen etc. verstanden werden. Das gleiche gilt für Attribute wie “verantwortlich”, “verantwortungsvoll” oder “verantwortungsbewußt”. Im Rahmen eines psychologischen Modells der Interaktion von Person und Umwelt muß Verantwortung 3) auf spezifische subjektive Sichtweisen sowie vor allem auf Handeln bezogen werden.

Das individuelle Handeln ist zugleich auch soziales Handeln, weil es in sozialen Bezugssystemen stattfindet und immer sozialen Deutungen von Verantwortung unterliegt. Das gilt nicht nur für kommunikatives und kooperatives, sondern auch für instrumentelles und auf gegenständliche Umwelt gerichtetes Handeln. Der soziale Charakter wird allerdings besonders offensichtlich, wenn das individuelle Handeln Teil eines kollektiven Handlungszusammenhanges ist, der Kommunikation und Kooperation erfordert. Nicht nur der Akteur selbst, sondern auch der außenstehende Beobachter interpretiert (und rekonstruiert gedanklich) immer das, was er als verantwortungsvolles (oder verantwortungsloses) Handeln versteht; und dabei greift er auf die in seiner Gesellschaft, Kultur oder Subkultur üblichen sozialen Deutungsmuster zurück. Für die auf Handeln bezogene Verantwortung nennt Lenk (1992) folgende Elemente, deren Relation den Verantwortungsbegriff kennzeichnet:

– jemand: Verantwortungssubjekt, -träger (Personen, Korporationen) ist

– für: etwas (Handlungen, Handlungsfolgen, Zustände, Aufgaben usw.)

– gegenüber: einem Adressaten

– vor: einer (Sanktions-, Urteils-)Instanz

– in bezug auf: ein (präskriptives, normatives) Kriterium

– im Rahmen eines: Verantwortungs-, Handlungsbereiches verantwortlich.

Wenn man nur die drei zuerst genannten Elemente heranzieht und danach fragt, wer wem wofür verantwortlich ist, so gelangt man zu einem deskriptiven Verständnis von Verantwortung. Lenk hebt darüber hinaus ein normatives Verständnis von Verantwortung hervor, bei dem Handlungssubjekt, Handlungsvollzug, Handlungsergebnis und Handlungsfolgen anhand von Wertmaßstäben beurteilt werden. Hier geht es um das ethisch “gute” bzw. moralisch “richtige” Handeln, das Personen vor äußeren Instanzen oder vor sich selbst, d.h. vor der inneren Instanz ihres Gewissens zu “verantworten” haben (Werte). Deskriptive Verantwortung bezieht sich vor allem auf die Verursachung des Handelns (Kausalität) durch eine Person, die angesichts von Einflußmöglichkeiten, Macht und Freiheit in einer Situation mit Handlungsalternativen ihre Absichten und Ziele in die Tat umsetzt. Normative Verantwortung bezieht sich vor allem darauf, ob dieselbe Person dabei sozialen Regeln, ethischen Werten, Gesetzen oder Prinzipien im Sinne einer innerlich bejahten Pflicht folgt (Jonas, 1984). Außer den positiven Pflichten, in bestimmter Weise handeln zu “sollen”, gibt es auch negativ bestimmbare, besonders verbindliche Pflichten, etwas nicht tun zu “dürfen”. Handeln besteht hier ausschließlich in der mentalen Entscheidung, ein Tun zu unterlassen.



Forschungsrichtungen

Auch im Alltagssprachgebrauch verwenden wir das Wort Verantwortung oft im Sinne zweier Bedeutungsbereiche: 1) Einfluß, Macht, Wirksamkeit, Handlungsfreiheit, Entscheidungsbefugnis, 2) ethische Verpflichtung zu Handlungen und Handlungsfolgen, die integer, gerecht, altruistisch, fürsorglich etc. sein sollen. Daß nicht zwei Bezeichnungen üblich sind, mag an folgendem Zusammenhang liegen: Die Annahme der Handlungs- bzw. Entscheidungsfreiheit eines Handlungssubjektes ist logisch die Voraussetzung für normative Urteile. Negativ formuliert heißt das: Wenn Verhalten völlig determiniert, z. B. extern erzwungen ist und keine Alternativen möglich sind, können Personen auch moralisch kaum dafür verantwortlich gemacht werden. Dieser Zusammenhang gerät in der Psychologie häufig aus dem Blick. Denn hier haben sich folgende Wissensbereiche und Forschungstraditionen unabhängig voneinander entwickelt, in denen entweder ein deskriptives oder ein normatives Verständnis von Verantwortung dominiert:

1) In der Allgemeinen Psychologie (sowie in der Arbeitspsychologie) gibt es handlungstheoretische Ansätze, in denen es nicht um kommunikatives Handeln mindestens zweier Akteure (wie in soziologischen Handlungstheorien), sondern um die zweckrationale Handlung eines einzigen Handlungssubjekts geht, das Motive in Handlungsabsichten und Ziele umsetzt, diese Ziele sowie Teilziele im beobachtbaren Handeln realisiert und anschließend überprüft. Kollektives Handeln, das ja auch kollektive Verantwortung bedeutet, gerät ebenso wie das zuvor erwähnte, nicht beobachtbare und nur mentale Handeln (der Unterlassung eines Tuns) erst in jüngster Zeit in den Blick (Handlungsreguation).

2) Wie in der Allgemeinen Psychologie steht in der Sozialpsychologie ein Bereich, den man der Person-Umwelt-Interaktion zuordnen kann, im Vordergrund des Interesses – nun allerdings nicht das Handeln an sich, sondern dessen Interpretation aus der Sicht von Akteuren und von außenstehenden Beobachtern. Im Anschluß an die klassischen Arbeiten von Heider, in denen noch explizit von Verantwortung die Rede war, geht es um Attributionen. So wird etwa empirisch untersucht, welche Ursachen Menschen in bestimmten Situationen (z. B. des Erfolgs oder Mißerfolgs) für ihr Verhalten oder dessen Konsequenzen benennen: innere Faktoren, äußere Faktoren und Zufälle. Erst in jüngster Zeit wendet man sich jenen Kontrollvorstellungen zu, die sich auf kollektives Handeln richten. Wieder geht es insgesamt um deskriptive Verantwortung, während präskriptive bzw. normative Aspekte kaum thematisiert werden. Eine zweite empirische Forschungstradition sind Altruismus und prosoziales Verhalten (Hilfeverhalten). Hier steht der präskriptive Bedeutungsgehalt von Verantwortung im Vordergrund. In den Milgram-Experimenten zeigt sich etwa, daß viele Personen bereit sind, auf Anweisung des Versuchsleiters einem anderen Menschen immer stärkere Schmerzen zuzufügen; nur wenige Personen weigern sich, so zu handeln. Viele Menschen in anonymen Gruppen fühlen sich nicht persönlich dafür verantwortlich, anderen Menschen selbst in extremen Notsituationen zu helfen. Zusammenhänge zwischen Verantwortung und Emotionen oder das Thema der Verantwortung als Leistung stehen im Vordergrund neuerer Arbeiten.

3) In der Persönlichkeitspsychologie gibt es ebenfalls einen Bereich, in dem der deskriptive Bedeutungsgehalt dominiert. Anstelle der spezifischen werden nun jedoch generalisierte Kontrollvorstellungen betrachtet. In etlichen Konzepten etwa zum Kontrollbewußtsein, zu Kontrollüberzeugungen (“Locus of Control”) oder zur Überzeugung der eigenen Wirksamkeit (“Agency”) beschreibt man Persönlichkeitsunterschiede sehr ähnlich – beispielsweise danach, wieweit sich Menschen a) internal als “Herr” bzw. Subjekt des eigenen Lebens und Handelns, b) external als Objekt äußerer Einflüsse, c) fatalistisch als “Spielball” von Schicksal und Zufall begreifen bzw. wieweit sie d) interaktionistisch die ständig wechselseitige Beeinflussung innerer und äußerer Faktoren in Rechnung stellen (Persönlichkeit). Ein normatives Verständnis findet man wiederum in den Ansätzen, die sich mit denjenigen zum sozialen Verhalten in der Sozialpsychologie überschneiden: So wird etwa Altruismus auch im Sinne eines Persönlichkeitsmerkmals verstanden; oder man untersucht Gerechtigkeitsüberzeugungen (i. S. des “Glaubens an eine gerechte Welt”). Außerdem gibt es im Schnittpunkt von Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologie den von Lawrence Kohlberg begründeten Ansatz zur Moralentwicklung, in dem theoretisch ein enger Bezug zu zentralen Ethikpositionen in der Philosophie hergestellt wird.



Verantwortung in der Praxis

Verantwortung ist in fast allen psychologischen Praxisfeldern zentral . Ganz offensichtlich wird dies in pädagogischen, therapeutischen und geriatrischen Bereichen. Charakteristisch ist hier eine eher asymmetrische und komplementäre Beziehung zwischen der Psychologin oder dem Psychologen auf der einen Seite und dem Kind, dem hilfesuchenden Klienten, dem pflegebedürftigen Patienten oder dem sehr alten Menschen auf der anderen Seite. Dabei gerät neben dem ersten besonders das zweite, normative Verständnis von Verantwortung (vor allem im fürsorgeethischen Sinn) in den Blick. Zum Rollenverständnis des Psychologen gehört hier traditionell ein professionelles Handeln, das die Verantwortung für den einzelnen Menschen, auf den es gerichtet ist, beinhaltet. Ein entsprechendes Verantwortungsbewußtsein des Psychologen gilt als dessen Voraussetzung und Folge. Ziel dieses verantwortungsbewußten Handelns ist es im übrigen vor allem, daß es am Ende überflüssig wird. Das Kind, der Klient, der Patient oder der alte Mensch soll nämlich (wieder) lernen, selbst verantwortlich zu handeln, und das heißt im Sinne der zuvor erwähnten psychologischen Ansätze: sowohl Erfahrungen von Kontrolle, Selbstwirksamkeit und Autonomie sowie moralische Urteils- und Handlungskompetenz für den Umgang mit Konflikten zu erwerben. Auch dann, wenn Psychologen andere Personen, die als Pädagogen, Therapeuten oder Pfleger tätig sind, unterrichten, beraten oder supervisieren, geht es darum, ob deren Handeln angesichts professioneller Standards und ethischer Prinzipien “verantwortet” werden kann.

In anderen, z.B. in arbeits- und organisationspsychologischen Praxisfeldern, ist Verantwortung vielleicht weniger offensichtlich, aber gleichwohl zentral. Wenn Psychologen etwa als Mediatoren agieren (Mediation), so ist ihr professionelles Handeln an ethischen Vorstellungen zum Diskurs und zur Gerechtigkeit orientiert, und dabei machen sie Verantwortung zum Thema bei der Bewältigung von Konflikten zwischen Personen, Gruppen oder Organisationen. Wenn sie Führungskräfte beraten, können sie zur Reflexion darüber anregen, welche Folgen es haben kann, wenn Verantwortung einseitig im Sinne von Einfluß, Macht und Entscheidungsbefugnis, nicht aber im ethischen Sinne verstanden wird. In Organisationen geht es ferner häufig um das Verhältnis von individueller und kollektiver Verantwortung. So kann es Aufgabe der Psychologen sein, ökologisches Verantwortungsbewußtsein dadurch zu fördern, daß sie für die einzelnen Mitarbeiter die kumulativen und kollektiven Folgen des eigenen Umwelthandelns (auch des unterlassenen Handelns) konkret erfahrbar machen und Möglichkeiten für gemeinsames Handeln erschließen (Unternehmensethik, Ethik in Organisationen).

Literatur

Graumann, C. F. (1994). Verantwortung als soziales Konstrukt. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 25 (3), 184-191.

Jonas, H. (1984). Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kaufmann, F.-X. (1989). Über die soziale Funktion von Verantwortung und Verantwortlichkeit. In E.-J. Lampe (Hrsg.), Verantwortlichkeit und Recht (S. 204-228). Opladen: Westdeutscher Verlag.

Kohlberg, L. E. (1981/1984). Essays on moral development. Vol. I.: The philosophy of moral development. Vol. II: The psychology of moral development. The nature and validity of moral stages. San Francisco: Harper & Row.

Lenk, H. (1992). Deskriptive und normative Zuschreibungen von Verantwortung. In H.Lenk (Hrsg.), Zwischen Wissenschaft und Ethik (S. 76-100). Frankfurt: Suhrkamp.

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