der Gesichtsschnitt, wie er sich aus Schädelform, Lage und Größe der Augen, Bildung des Mundes und der Nase, Ansatz und Form der Ohren, Art des Kinnes, Polsterung oder Schmalheit der Wangen ergibt. Sowohl diese Einzelheiten wie der Gesamteindruck scheinen irgendwie das Wesen des Menschen anzukündigen, auch wenn das Gesicht sich in Ruhe befindet, also keine Mimik zeigt. Seit altersher hat man Methoden zu entwickeln versucht, mit denen man sicher aus der Physiognomie auf den Charakter schließen könnte. Die »Physiognomik« begann als eine Art Mantik, das heißt, man las die Einzelheiten des Gesichtes wie Symbole oder ließ sich durch Ähnlichkeiten etwa mit dem Kopf eines Tieres verleiten, einem Menschen die entsprechenden tierischen Eigenschaften zuzuschreiben. Noch die Lehre, die der Arzt Franz Joseph Gall (t 1828) aus Schädelabmessungen ableitete, und die physiognomischen Schriften des Theologen Johann Kaspar Lavater (t 1801) sind nicht ohne solche Elemente. Sehr verbreitet ist eine vermeintliche Menschenkenntnis, die aus einer krummen Nase auf einen krummen Charakter oder aus dem Mund mit vollen Lippen sogleich auf ein sinnliches Wesen schließt. Hier vermischen sich Aberglaube und Vorurteil. Ähnlich wie in der Entwicklung der Handschriften-Deutung zur modernen Graphologie hat sich auch in der modernen Charakterkunde, soweit sie das Studium des Gesichtes einschließt, die Erkenntnis durchgesetzt, daß man nicht aus Einzelheiten der Physiognomie auf einzelne Eigenschaften schließen darf, sondern nur aus dem Gesamteindruck einen gewissen Hinweis auf seelische Gegebenheiten gewinnen kann. Hierbei sind so viele Faktoren zu bedenken und so viele Kombinationen möglich, daß sich eine Charakterdeutung aus dem Gesicht nicht nach Regeln lehren läßt, die man wie ein Einmaleins immer anwenden könnte. Physiognomik ist eher eine Sache der Erfahrung und der Einfühlungsgabe als eine Wissenschaft. Damit steht sie auch immer in der Gefahr, daß ihre Deutungen mehr der Sympathie oder Antipathie des Deuters gehorchen als den Mitteilungen entsprechen, die sich aus einem Gesicht wirklich ablesen ließen. Denn daß die Physiognomie etwas über die Psyche besagt, zeigt sich schon daran, wie ein Gesicht im Laufe des Lebens sowohl gleichbleibt als auch sich wandelt. Es spiegelt die un veränderliche Anlage des Menschen gerade so wie die frühen Erfahrungen, die sich am stärksten einprägen, und auch alle späteren Eindrücke, die Wesen wie Gesicht gleichermaßen nachformen. Zwei Menschen, die lange die gleichen Erfahrungen teilen und dabei auch ständig aufeinander einwirken, wie dies in den Jahrzehnten einer guten Ehe geschieht, ähneln sich schließlich auch in ihrer Physiognomie.
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