»Ananke und Moira«, sind nach Freud die wahren »Götter«, die unser Leben von außen her bestimmen. Die Not ist ein Mangel, den wir beheben müssen, wenn wir ihm nicht erliegen wollen. Sie ist zugleich ein Zwang, der uns einengt. Aus der Erkenntnis dieser Bedingungen erst kann sich eine Einsicht in die Möglichkeiten zu ihrer Überwindung ergeben. Mit den Anstrengungen zur Beseitigung der Not begann die Kultur. Dazu gehört vor allem der Zusammenschluß mehrerer Menschen in Gemeinschaften, deren vereinte Kräfte erst stark genug für einen Sieg über die Widrigkeiten der natürlichen Umwelt sind. Aus der Not entstand also auch der Zwang zum Verzicht auf individuelle Wünsche, die der Einordnung in eine Gemeinschaft zuwiderlaufen. Sind die Kräfte nicht stark genug, die Not zu bannen, lähmt der ständige Mangel die Menschen, die ihm unterliegen. Oft treten an Stelle der Befriedigungen, die real nicht zu erreichen sind, Wunsch und Wahnvorstellungen, die das Gefühl der Not nur betäuben. Eine aktuelle Notlage, die als vorübergehend angesehen werden kann, mag dagegen Abwehrkräfte aktivieren. Dann werden gleichsam die letzten Reserven aufgerufen. Dann konzentriert sich der Mensch ganz auf das eine Ziel, die Not zu beheben. In dieser Anstrengung ist man zu vielen Verzichten in anderen Bereichen bereit. Mühseligkeiten, über die man unter besseren Umständen klagen würde, scheinen nicht mehr zu zählen. Die Not hemmt sogar Krankheitsneigungen, wobei sich besonders deutlich zeigt, daß auch körperliche Krankheiten von seelischen Faktoren mitbestimmt sind (psychosomatisch). In Kriegszeiten zum Beispiel gehen die Neurosen zurück, weil die allgemeine Not soviel Leiden mit sich bringt, daß sich eine individuelle Leidenshaltung sozusagen erübrigt. In einer äußersten Not werden freilich auch die Regeln der Moral und der Gemeinschaft fragwürdig. Das mag zu dem Prinzip führen : »Jeder ist sich selbst der Nächste« oder »Not kennt kein Gebot«.
Das freie Lexikon der Psychologie. Fundierte Informationen zu allen Fachgebieten der Psychologie, für Wissenschaftler, Studenten, Praktiker & alle Interessierten. Professionell dargeboten und kostenlos zugängig.
PsychologielexikonModernes Studium der Psychologie sollte allen zugängig gemacht werden.