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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Scham

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

ein nur dem Menschen eigenes Gefühl, das aber auch ihm nicht angeboren ist, sondern von jedem Kinde neu gelernt werden muß. Nach biblischer Überlieferung entstand die Scham bei Adam und Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen, das heißt, ein Bewußtsein entwickelt hatten: »sie sahen, daß sie nackt waren«. Tatsächlich bezieht sich die Scham in erster Linie auf die Nacktheit, auf die Sexualität und auf die Geschlechtsteile, deren Körperregion im Deutschen auch »Scham« heißt. Ihr Anblick ist sofort auffällig, seit die Vorfahren des Menschen begannen, ständig aufrecht zu gehen. Er erinnert sie seitdem an ihre tierische Vergangenheit, die geradeso wie mit der Scham auch mit dem Ekel vor Körperausscheidungen und Körpergerüchen geleugnet werden soll. Die Abwehr-Reaktionen der Scham und des Ekels werden vor allem während der zweiten Etappe der Kindheit, in der Latenz-Zeit, mit Hilfe der Erziehung aufgebaut. Diese Erziehung zur Scham birgt die Gefahr, daß die geschlechtliche Liebe insgesamt als unanständig empfunden wird, sodaß die Schranke zu freier Hingabe nicht mehr überwunden werden kann. Doch reagiert man mit Scham auch, falls man bei anderen als sexuellen Regungen ertappt wird, wenn sie nicht der zivilisierten Außenseite entsprechen, wie man sie darbieten möchte. Man schämt sich eines Versagens, einer Schwäche, ja selbst eines starken Gefühls, wie es sich in Tränen der Trauer ausdrücken mag. Der Mann ist hier durch seine Geschlechtsrolle noch stärker eingeengt als die Frau. Das Verbot, sich bloßzustellen, steigt mit dem Platz, den jemand in der sozialen Rangordnung einnimmt. Die Stärke zwischenmenschlicher Bindung ist unter anderem davon abhängig, wie wenig man voreinander verbergen muß. Die moderne Massengesellschaft erzwingt eine ständige Mißachtung der Intimsphäre, die die Scham eigentlich schützen soll.Im Schamgefühl erleben wir die fehlende Übereinstimmung einer Verhaltensweise mit unserem eigenen inneren Ideal, die uns durch die als höhnisch, verächtlich oder herablassend empfundene Haltung anderer Menschen bewußt gemacht wird. Scham tritt auf, gleichgültig, ob diese Beschämung vor anderen in der Wirklichkeit stattfindet oder in der Vorstellung vollzogen wird. Während zur Schuld das Gefühl gehört, etwas Strafbares, Verbotenes getan zu haben (Schuldgefühl), tritt Scham auf, wenn etwas Lächerliches, Verächtliches oder Peinliches geschah. Man kann ein Kind durch Beschämung ebenso unterdrük-ken wie durch Drohung. Es bedeutet aber einen Unterschied für die Persönlichkeitsentwicklung, ob zum Beispiel der Vater zum Sohn in der Situation des Ödipuskomplexes sagt: «Was willst du schon, du Schwächling?» (Scham) oder «Wer die Hand gegen seinen Vater erhebt, dem wird sie verdorren» (Schuld). Wie das Ich-Ideal ist auch die Scham eine Folge bestimmter Bedingungen der Erziehung (Sozialisation). Das gilt auch für die angeblich «natürliche» Scham vor Nacktheit, die es in zahlreichen Kulturen gar nicht gibt.

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