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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Latenz

Autor
Autor:
Sonja Margarethe Amstetter

soviel wie Verborgenheit. So vergeht nach einer Infektion eine gewisse Latenzzeit, ehe die Krankheit offen ausbricht. In ähnlicher Weise verzögert sich manchmal die Reaktion auf einen Reiz. In der Tiefenpsychologie spielt der Unterschied zwischen latent (unterschwellig, unbewußt) und manifest (offenkundig, ausgeprägt) eine große Rolle. Die Triebe, mit denen jeder Mensch geboren ist, äußern sich nicht alle stets in erkennbarer Weise. Sie können abgelenkt, sublimiert, verdrängt worden sein; aber immer wirken sie sich irgendwie aus. Wenn man nur nach dem sichtbaren Verhalten ginge, erschiene die Behauptung unsinnig, daß sich bei jedem Menschen z. B. die analen, sadistischen, homosexuellen usw. Anlagen erhalten haben, die das Kind mit auf die Welt bringt. Diese Tendenzen bleiben vielfach latent; sie haben sich bis zur Unkenntlichkeit verwandelt oder liegen in Bereitschaft, so daß sie in besonderen Situationen auch durchbrechen und manifest werden können. Am häufigsten und am leichtesten wird das kenntlich bei dem Traum und der Traumdeutung. Der manifeste Traum, das heißt der Phantasie-Ablauf im Schlaf, an den wir uns nach dem Erwachen erinnern, verrät nicht ohne weiteres die Gefühle und Wünsche, die ihn hervorgebracht haben. Erst nach der Traumdeutung mithilfe der freien Assoziation (und durch Übersetzung von Symbolen) werden die latenten Traumgedanken erkennbar, die sich hinter den Traumbildern versteckt hatten. In der Ausnahmesituation des Schlafes, der an jeder Aktivität hindert, melden sich die bereitliegenden Triebe und Wünsche deutlicher als sonst. Zwar hat das Über-Ich (Gewissen) eine Traumzensur ausgeübt, die für die Umwandlung der Traumgedanken in zunächst undurchschaubare Bilder gesorgt hat, aber diese Tarnung läßt sich durch die Traumdeutung relativ leicht rückgängig machen, da es sich ja nur um ungewollte Phantasien handelt, und nicht um verbotene Taten. Wie sich unsere Triebanlagen manifest äußern, hängt wesentlich von der Prägung durch die Umwelt und die Erziehung in früher Kindheit ab. Die frühkindliche Sexualentwicklung durchläuft verschiedene Phasen, ehe sie ihr Ende in der Oedipus-Situation findet, die beim Knaben mit der Auslösung des Kastrations-Komplexes gekoppelt ist. Danach beginnt die »Latenz-Zeit«, während der alle sexuellen Strebungen mehr oder weniger zurücktreten. Erst mit der beginnenden Pubertät setzt die sexuelle Entwicklung neu ein. Dieses Erwachen der Geschlechtlichkeit ist eigentlich ein Wiedererwachen, ein »zweiter Ansatz«, den es nur beim Menschen mit seiner ungewöhnlich langen Abhängigkeit von den Eltern gibt. In der Zwischenperiode werden durch die Erziehung die Hemmungen wie Scham und Ekel aufgebaut, und die moralischen Gebote eingepflanzt, die fortan das Triebleben einengen und lenken. Nur in der Latenzzeit mit ihrer Dämpfung des Sexualtriebes kann diese Erziehung nachhaltigen Erfolg haben. Sie bewirkt aber keine Änderung der Tiefenschicht, des Es, sondern stellt nur eine Überlagerung, eine Art Schutzschicht her, die einen Teil der latenten Anlagen an der manifesten Äußerung hindert. Sie baut gegen das Es die Kontroll-Instanz des Über-Ich auf.

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