im Kern: die Angst des Mannes, sein Geschlechtsteil (oder doch seine Potenz) zu verlieren. Diese meist unbewußte Angst steht im engen Zusammenhang mit der Oedipus-Situation des Knaben, die den Höhepunkt der frühkindlichen Sexualentwicklung und den Beginn der Latenz-Zeit bezeichnet. Der Knabe hat dann alle seine Liebes-Wünsche auf die Mutter konzentriert, trifft aber auch auf die Rivalität des Vaters, den er am liebsten beseitigen möchte. Aber er ist doch zugleich auf den Schutz dieses Vaters angewiesen und und seiner Macht ausgeliefert. Er glaubt sich vom Vater bedroht. Er fürchtet, vom Vater seines Geschlechtsteils beraubt zu werden. Diese Gefahr ist dem Knaben schon früher entgegengetreten, als seine kindliche Selbstbefriedigung mit der Drohung belegt worden ist, man werde ihm sein Glied abschneiden. Diese Drohung muß nicht so offen ausgesprochen worden sein; sie wird auch aus milderen Formeln herausgehört, etwa wenn es heißt: »Ich nehme dir dein Spielzeug weg.« In dem für viele Jahrzehnte so beliebten deutschen Kinderbuch »Struwwelpeter« versteckt sich die Kastrationsdrohung in der Geschichte vom Daumenlutscher, dem die Daumen abgeschnitten werden, weil er von seiner oralen Ersatz-Sexualität nicht lassen kann. Dennoch wirkt die Kastrationsdrohung zunächst unglaubhaft. Der Knabe kann sich einfach nicht vorstellen, daß ein so bedeutsamer Körperteil verlorengehen könnte. Deshalb nimmt er auch an, daß alle Menschen gerade so einen Penis haben müßten wie er. Erst wenn er im Stadium der »Sexualforschung«, beim Erwachen seiner exhibitionistischen und voyeuristischen Tenden zen, entdeckt, daß dem anderen Geschlecht der Penis fehlt, wirkt die Drohung real. Er kann sich den Penismangel der Frauen und Mädchen nicht anders als durch eine Kastration erklären. Die Entdeckung ist so schockierend, daß der Knabe dem Augenschein nicht traut. Er meint wie der »kleine Hans«, der erste kindliche Patient der Psychoanalyse, beim Anblick der neugeborenen Schwester: »Ihr Wiwimacher wird noch wachsen.« Fortan erinnert das penislose Weib den Mann an die Kastrationsgefahr. Daraus ergibt sich in vielen Fällen eine Vermeidung des Weibes, zum Beispiel als Ausflucht in die Homosexualität. Oft wird ein Partner gesucht, der weibliche Züge mit männlichen vereint, eine Art Hermaphrodit, ein »Weib mit dem Penis«. Als unbewußte Wunschvorstellung findet sich die Phantasie vom »Weib mit dem Penis« auch bei unzähligen Männern, deren unbewußtes Sexualempfinden und Sexualverhalten der durchschnittlichen Norm entspricht. Ebenso hat sich diese Phantasie in mythologischen und künstlerischen Motiven niedergeschlagen. Die penislose Frau wirkt unheimlich, weil ihre Sexualorgane nicht ohne weiteres sichtbar sind. Die Vagina wird als Loch, ja als Abgrund aufgefaßt, in den der Mann ebenso versinken könnte, wie er in die sexuelle Leidenschaft versinkt. Wenn der reife Mann später erlebt, wie stark die Scheide sein Glied umschließt, und wie der Koitus es »aussaugt«, wird er erneut mit der Gefahr konfrontiert, die das Weib für ihn darstellt. Hier wurzelt die Phantasie von der »Vagina dentata«, der »gezähnten Scheide«, die wie ein Mund mit Zähnen bestückt sei, dazu geschaffen, seinen Penis abzubeißen. Auch diese Phantasie läßt sich hinter manchen Verkleidungen der Sage, der Kunst und der Träume wiedererkennen. Beim Knaben löst die Kastrationsfurcht zur Zeit der Oedipus-Situation den Verzicht auf die sexuelle Beziehung zur Mutter aus. Er zieht sich sogar von der Sexualität überhaupt zurück und tritt in die Latenzzeit ein, in der die sexuellen Strebungen zu schlafen scheinen. Die Hemmungen, die während dieser Periode durch die Erzieher aufgebaut werden, tragen zu der Verdrängung bei, die im Zeichen des Inzest-Tabus und der Kastrationsdrohung begonnen hat. Wie der Oedipus-Komplex so ist auch der Kastrations-Komplex nicht bewältigt worden; er wirkt im Unbewußten und damit unkontrolliert weiter. Die Kastrationsdrohung wird im späteren Leben immer wieder »bestätigt«, wenn der Mann erfährt, wie unzuverlässig seine sexuelle Potenz ist. Die Sexualbereitschaft der Frau scheint der seinen weit überlegen zu sein. Schon äußerlich ist sein wichtigstes Sexualorgan ungeschützt und sehr verletzlich. Eine Kastration würde bedeuten, die Männlichkeit zu verlieren und »zum Weibe zu werden«. Dieses Opfer wird nur unter zwei Ausnahme-Bedingungen erwogen. Es kann einen Aus weg aus der Abhängigkeit von der eigenen Sexualbegierde bedeuten, wie er von der russischen Sekte der Skopzen begangen wurde, deren Anhänger sich aus religiösen Gründen selbst verstümmelten. Es kann aber auch sein, daß der Knabe eine innige Liebe zum Vater entwickelt, so daß er ihm die Mutter ersetzen möchte. Das scheint nur möglich zu sein, wenn der Knabe einwilligt, zum Weibe zu werden. Der Gerichtspräsident Daniel Paul Schreber, ein Sohn des Begründers der »Schrebergarten«-Bewegung, hat in seinen »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« (1903) eindrucksvoll dargestellt, wie er sich allmählich in die imaginäre Verwandlung zum Weibe fügte. Der Verlust der eigenen Männlichkeit erscheint auch deshalb als glaubhafte Drohung, weil jeder Mann in sich weibliche Züge hat (Bisexualität). Diesen Aspekt betonte Freuds Schüler und Gegenspieler Alfred Adler mit seinem Begriff »männlicher Protest«. Die Bezeichnung ist mißverständlich, denn es ist ja ein Protest des Mannes gegen die eigene Weiblichkeit gemeint. Die Formel Adlers umfaßt darüber hinaus den Protest der Frau gegen ihre Weiblichkeit, also ihren Wunsch, ein Mann zu sein. Insoweit entspricht sie den Auffassungen, die Freud unter dem Namen Penisneid vortrug. Der Penisneid ist sozusagen der weibliche Kastrationskomplex, der sich jedoch mit dem des Mannes kaum vergleichen läßt, weil es bei der Frau eine Angst vor der Kastration nicht geben kann.
Es läßt sich in einer knappen Zusammenfassung nicht deutlich machen, wie groß die Bedeutung des Kastrationskomplexes für die Sexualität des Mannes ist. Es gibt zwischen Impotenz und Perversion keine Störung des männlichen Sexualempfindens, an der nicht der Kastrationskomplex Anteil hätte.
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