und Charakter stehen in einem Wechselverhältnis zueinander, das die Konstitutions-Forschung untersucht. Bahnbrechend war hier der deutsche Psychiater Ernst Kretschmer (t 1964), der unter Geisteskranken eine bestimmte Beziehung zwischen ihrem Körpertyp und der Art ihrer Krankheiten festgestellt hatte. Diese Beobachtungen übertrug er auf eine Typenlehre, die auch den Durchschnittsmenschen und das Genie einschließt. Sein Ansatz wurde von späteren Forschern verfeinert oder modifiziert, unter anderem von dem Amerikaner William Herbert Shelden in seinen Werken über die Variationen der menschlichen Physis (1940) und des menschlichen Tempe ramentes (1942). Den größten Einfluß auf die populäre Charakterologie hat noch immer die Begriffssprache Kretschmers. Sie unterscheidet vier Typen, zwischen denen es viele Mischformen gibt. Ist der Körperbau nach einem der Typen stark ausgeprägt, läßt sich daraus ein relativ sicherer Schluß auf ein bestimmtes Temperament, eine Art des Erlebens und Verhaltens ziehen. Eine solche Charakterdiagnose nach dem Augenschein ist kaum möglich bei Mischtypen und bei Menschen, die charakterlich »ungeprägt« sind. Meist lassen sich Männer leichter einordnen als Frauen. Eine Irrtumsquelle liegt darin, daß sich viele Menschen in ihrem Verhalten stark nach den Vorstellungen ihrer Umwelt richten oder nach dem Rollenbild, das die Gesellschaft für ihren Beruf, ihr Geschlecht, ihr Alter oder ihre Schicht entworfen hat. Sie tragen gleichsam eine Maske, die sie erst in einer sehr vertrauten Beziehung ablegen würden; der gelegentliche Beobachter bekommt ihr »Gesicht« nicht zu sehen. Der leptosome oder schlankwüchsige Typ neigt am ehesten zur Schizophrenie. Zwischen einer kraß krankhaften Entwicklung und der Entsprechung im normalen Bereich, die schizothym heißt, steht die »schizoide« Ausprägung. Der Leptosome schwankt zwischen den Polen reizbar und stumpf. Nach außen ist er eher verschlossen, introvertiert. Er geht nicht leicht Beziehungen ein, kann sich aber sehr innig binden. Er neigt zum Grübeln und ist oft sehr empfindsam. Er hängt sich gern an Ideale, die er manchmal mit Fanatismus verfolgt. Der Realität kann er sich schwerer anpassen. Am deutlichsten hat diesen Typ Cervantes mit seinem »Don Quichote« geschildert. Er stellte ihm zur Seite den Pykniker Sancho Pansa. Wie andere Rundwüchsige auch ist er ein Realist, anpassungsfähig, kontaktfreudig, extravertiert. Diesem Körperbautyp, entspricht ein »zyklothymes« Temperament, das zwischen Heiterkeit und Melancholie schwankt. Unter zyklothymen Genies finden sich viele Humoristen, die ihre bitteren Wahrheiten hinter Witz und Komik verstecken wie Wilhelm Busch. Die stärkere Ausprägung des Hin und Her zwischen »himmelhoch jauchzend« und »zu Tode betrübt« heißt zykloid. Der Extremfall ist das »manisch-depressive Irresein«, das Kretschmer besonders bei Pyknikern fand. Schon Hippokrates (um 400 v. Chr.) ging von einer ähnlichen Zweiteilung aus. Seit dem 18. Jahrhundert erkannte man einen muskulösen Mitteltyp. Kretschmer bezeichnete ihn als »Athletiker«. Muskelbildung und starker Knochenbau gehen meist mit einem »viskösen«, d. h. zähflüssigen Temperament einher. Der Athletiker wirkt auch in seinen Gefühlsäußerungen schwerfällig; er ist nicht leicht zu bewegen. Unter Genies ist der Typ so gut wie nicht vertreten. Als nächstliegende Form der Geisteskrankheit sah Kretschmer das »Katatonische Syndrom« an, eine Störung der Antriebe und Bewegungen. Auch die Epilepsie ist mit dem athletischen Typ in Verbindung gebracht worden. Eine vierte kleine Gruppe nannte Kretschmer »dysplastisch«, also dem Körperbau nach verformt. Charakterlich stellte er sie den Leptosomen nahezu gleich. Sheldon sprach von der engen Beziehung zwischen »Edomorphie«, einer weichen Rundheit des Körperbaus, und »Viscerotonie«, einer Neigung zu Bequemlichkeit, Geselligkeit, Toleranz, die etwa dem pyknischen Typ entspricht. Dem Bilde, das Kretschmer vom Athletiker entwarf, stellte Sheldon die Beziehung zwischen »Mesomorphie«, starker Ausbildung der Muskeln und Knochen, und »Somatotonie« mit Eigenschaften wie Energie, Robustheit und Herrschsucht an die Seite. Den Leptosomen endlich sah er durch »Ektomorphie«, allgemeine Zartheit, und »Cerebrotonie«, eine Gehemmtheit, Überempfindlichkeit und Neigung zum Verbergen der Gefühle gekennzeichnet. Die Konstitutionslehre, die Willhart S. Schlegel seit 1957 vorträgt, geht von einem » andropomorph en « (männlich geformten) und einem »gynäkomorphen« (weiblich geformten) Grundtyp aus, zwischen denen er zahllose Zwischenstufen annimmt. Hier wird der Körperbau insbesondere mit den Formen sexuellen Empfindens und Verhaltens in Verbindung gebracht. Typenlehren gestatten immer nur eine erste, grobe Orientierung. Es gibt Mischtypen, deren Einordnung unsicher bleibt, oder »Ungeprägte«, die überhaupt kaum Charakter zu haben scheinen. Auch innerhalb jedes Typs haben die unterschiedlichen Umwelteinflüsse zu einer Vielzahl von Variationen geführt. Jeder Einzelne gehört zu seinem Typ etwa so, wie er zu seinem Volk, seiner Schicht, seiner Altersgruppe gehört. Was seine Individualität ausmacht, läßt sich so nicht erfassen.
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