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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Geschlechterforschung

Autor
Autor:
Anneliese Widmann-Kramer





Zur Geschichte

Historisch gesehen hat sich Geschlechterforschung vor allem aus der Frauenforschung (Feministische Psychologie) entwickelt. Wesentlich ist beiden Richtungen die Kritik an geschlechtsspezifischen Macht- und Hierarchiestrukturen und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Diese ist strukturierendes Element unserer Gesellschaft. Sie zeigt sich in der unterschiedlichen Zuordnung von Männern und Frauen zu Erwerbs- und Hausarbeit und konkretisiert sich in für beide Geschlechtsgruppen unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern, Anforderungen, Möglichkeiten und Barrieren. Inwieweit damit geschlechtstypische Selbst- und Fremdbeschreibung, differierende Verhaltensstile, Kompetenzen, Interessen, Ziele etc., sowie für beide Geschlechtsgruppen differierende Normen und Werte verbunden sind, wird in der Geschlechtsstereotyp-, der Geschlechtsrollen- und der Geschlechtsunterschiedsforschung behandelt. Die Bedeutung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung aufgreifend wurden 1) wissenschaftsimmanente Kritikpunkte an der verbreiteten Forschungspraxis formuliert und 2) Konzepte der feministischen Frauenforschung erarbeitet, die 3) zur Grundlage der Geschlechterforschung wurden.



Kritik an der traditionellen Forschungspraxis

Kritik an einer quantitativ unzureichenden Berücksichtigung von Frauen bei Untersuchungen über Erwerbsarbeit oder über Erziehungsverhalten wurde in früheren Phasen der Frauenforschung immer wieder formuliert. Inwieweit die beiden Geschlechtsgruppen hinreichend berücksichtigt werden, ist aber insofern auch eine Frage der Qualität, als es darum geht, den spezifischen Lebenswelten von Frauen und Männern gerecht zu werden. Dies betrifft alle Phasen des Forschungsprozesses (Bamberg & Mohr, 1982).

1) Theorieentwicklung: Eine hinreichende Berücksichtigung von Männern und Frauen bei der Theorieentwicklung setzt voraus, daß gängige Konzepte immer wieder in Frage gestellt werden und inkonsistente theoretische Ansätze oder Untersuchungsergebnisse aufgegriffen werden. So wird etwa nach wie vor häufig von dem Drei-Phasen-Modell der Erwerbsbiographie von Frauen: Berufstätigkeit - Unterbrechung der Berufstätigkeit aufgrund von Erziehungsaufgaben - erneute Berufstätigkeit ausgegangen, ohne neuere Untersuchungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, die zeigen, daß das Erwerbsverhalten der Mehrzahl der Frauen diesem Modell nicht entspricht.

2) Formulierung von Fragestellungen: Durch die Formulierung von Fragestellungen werden z.B. Frauen und Männer unreflektiert etikettiert, indem, im Falle von Arbeitslosigkeit bei männlichen Stichproben Wirkungen auf die Gesundheit, bei weiblichen Stichproben eine protektive Funktion der Hausarbeit in den Vordergrund gestellt wird. Erforderlich ist, für eine Differenz individueller Lebensbezüge offen zu sein.

3) Durchführung von Untersuchungen: Bei der Zusammensetzung der Stichprobe, bei den Untersuchungsmethoden und den Rahmenbedingungen von Studien werden Frauen und Männer häufig ungleichgewichtig berücksichtigt. Allein die Suche nach einer ausgewogenen Stichprobe, in der z.B. nicht nur männliche, sondern auch weibliche Führungskräfte, oder nicht nur alleinerziehende Mütter, sondern auch Väter vertreten sind, der Einsatz von Untersuchungsinstrumenten, deren Gütekriterien für beide Geschlechtergruppen geklärt ist, Untersuchungszeiten, die für Männer und Frauen akzeptabel sind, erfordern einen erheblichen Aufwand, der oft nicht betrieben und mit knappen Forschungsressourcen entschuldigt wird.

4) Interpretation der Ergebnisse : Es finden sich Interpretationen, die weitreichende Konsequenzen haben können, etwa dann, wenn Berufswechsel von männlichen Erwerbstätigen mit Karriereorientierung, der von weiblichen Beschäftigten mit mangelndem Commitment erklärt wird (gender-bias).



Feministische Frauenforschung

Eichler (1997) faßt die Kritik am Forschungsprozeß in mehreren Forschungs-Sexismus-Typen zusammen. Dazu gehören Androzentrismus, d.h. die Übernahme einer männlichen Perspektive im Forschungsprozeß, und Überverallgemeinerung, wenn in einer Untersuchung zwar allgemeine Aussagen formuliert werden, aber lediglich eine Geschlechtsgruppe untersucht wird. Geschlechterinsensibilität ignoriert Geschlecht als gesellschaftlich relevante Kategorie. Geschlechterdichotomie, als Gegenpol zur Geschlechterinsensibilität behandelt Männer und Frauen als strikt voneinander getrennte Gruppen, statt Varianzen innerhalb der Gruppen und Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen zur Kenntnis zu nehmen. Ein doppelter Bewertungsmaßstab findet sich dann, wenn allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit Prozesse oder Merkmale unterschiedlich bewertet werden.

Eichler entwickelt einen Fragebogen zur Analyse von Sexismus in der Forschung und schlägt Alternativen zur institutionalisierten Forschungspraxis vor, die der Aufrechterhaltung eines frauenfeindlichen und damit menschenfeindlichen Zustands diene. Die Frauenforschung setzt dem zentrale Positionen entgegen, die sich durch folgende gemeinsame Merkmale charakterisieren lassen: (a) Parteilichkeit- und Interessengeleitetheit geht über eine gezielte Berücksichtigung von Frauen in der Forschung hinaus; Forschungsthemen und -ziele werden unter Bezugnahme auf die Interessen von Frauen formuliert. (b) Die Integration von Forschungs- und Bewußtwerdungsprozeß erfolgt dadurch, daß die Forscherinnen die eigene Rolle, die eigenen Aufgaben und Entwicklungen als wesentliche Bestandteile des Forschungsprozesses sehen. (c) Die Integration von Forschung und politischer Aktion soll gewährleisten, daß sich wissenschaftliche Untersuchungen, praktische Arbeit und soziale Bewegung kontinuierlich gegenseitig beeinflussen und unterstützen.

Im deutschsprachigen Raum wurden in der Frauenforschung zunächst Themenstellungen bearbeitet, in denen weibliche Unterdrückung, weibliche Kulturen, weibliche Praxen und Formen weiblicher Subjektivität (Becker-Schmidt, 1993) im Vordergrund standen. Damit war es möglich, gesellschaftliche Diskriminierungen aufzuzeigen. Dennoch ist diese Sicht aus mehreren Gründen verkürzt: Frauen werden damit vor allem als Objekt, in einer Opferrolle gesehen; als Handelnde werden sie kaum zur Kenntnis genommen. Durch die Betonung homogener Geschlechtergruppen werden Differenzierungen innerhalb der Geschlechtergruppen und innerhalb geschlechtstypischer Hierarchien sowie Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtergruppen weitgehend ausgeklammert.



Von der Frauen- zur Geschlechterforschung

Wie die vor allem im anglo-amerikanischen Raum verbreitete Trennung zwischen "sex" und "gender" verdeutlicht, ist zwischen biologischer Geschlechtszugehörigkeit (sex) und den gesellschaftlich-sozialen Implikationen (gender) zu unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen "sex" und "gender" ist zwar verbreitet, aber nicht unumstritten. Wie Kritikerinnen darauf verweisen, suggeriere diese Trennung eine klare Trennlinie zwischen Natürlichem und Kulturellem. Die Kategorie "sex" beruhe ferner auf der Behauptung zweier biologisch eindeutig verifizierbarer Geschlechter. Nach Judith Butler (1991) ist auch die biologische Unterscheidung zwischen zwei Geschlechtern sozial konstituiert. Was wir als Natur bezeichnen, sei gesellschaftlich bestimmt. Immer dann, wenn von einer Identität der Frauen ausgegangen wird, wenn Frauen im Gegensatz zu Männern gesehen werden, würde die Bedeutung des Geschlechts und die Geschlechterpolarität verfestigt. Geschlecht sei "performance". Anstelle der bestehenden binären Zuschreibung sei ein "spielerisch-subversiver" Umgang mit der Geschlechtszugehörigkeit vorzuziehen. Der Sicht von "Frauen in der Opferrolle" setzt Butler die Sicht eines äußerst flexiblen Umgangs mit der Geschlechtszugehörigkeit entgegen.

Auch wenn dieses Konzept nicht unumstritten ist, so verweist es doch auf ein zentrales Thema der Geschlechterforschung: die Geschlechterverhältnisse. Diese Perspektive sieht beide Geschlechtsgruppen in ihrem wechselseitigen Bezug, denn die Besonderheiten im weiblichen Lebenszusammenhang ergeben sich aus dem Verhältnis zur anderen Geschlechtsgruppe und werden nur im Vergleich mit ihr deutlich. Der Begriff Geschlechterverhältnisse umfaßt die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern und die Regulative, die dafür von Bedeutung sind - institutionelle und informelle Bedingungen sowie psychische Prozesse, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern beeinflussen, sie aufrecht erhalten, bzw. die Reproduktion dieser Beziehungen gewährleisten. Geschlechterverhältnisse beschreiben Abhängigkeiten - nicht-äquivalente Austauschprozesse zwischen den Geschlechtern. Generell besteht eine geschlechtstypische Hierarchisierung von Macht und Ressourcen, die sich je nach Handlungsfeld und Lebensbereich unterscheidet (Becker-Schmidt, 1993; Wetterer, 1995). Es geht in der aktuellen Geschlechterforschung nicht nur um Benachteiligung, sondern auch um Ressourcen, z.B.: Über welche Potentiale verfügen Frauen, deren Biographien nicht den traditionellen Geschlechtsmustern entsprechen? Es geht weniger um zwei homogene Gruppen - Männer und Frauen, sondern vielmehr um Differenzierungen innerhalb von Gruppen. Zu berücksichtigen sind auch Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen, wie z.B.: Wie sind berufs- und branchentypische Differenzierungen bei Geschlechterhierarchien zu erklären? Es geht somit weniger darum, welche Unterschiede bestehen und wie ausgeprägt sie sind, sondern darum, unter welchen Voraussetzungen, durch welche Prozesse Differenzierungen entstehen und wie variabel sie sind.

Literatur

Bamberg, E. & Mohr, G. (1982). Frauen als Forschungsthema: Ein blinder Fleck in der Psychologie. In G. Mohr, M. Rummel & D. Rückert (Hrsg.), Frauen. Psychologische Beiträge zur Arbeits- und Lebenssituation. München: Urban und Schwarzenberg.

Becker-Schmidt, R. (1993). Geschlechterdifferenz - Geschlechterverhältnis: soziale Dimensionen des Begriffs "Geschlecht". Zeitschrift für Frauenforschung, 11, 1,2, 37-47.

Butler, J. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt: Campus.

Eichler, M. (1997). Feminist methodology. Current Sociology, 45,2,3-36.

Wetterer, A. (Hg.) (1995). Die soziale Konstruktion von Geschlecht in Professionalisierungsprozessen. Frankfurt: Campus.


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