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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Tablettensucht

Autor
Autor:
Katharina Weinberger

die Abhängigkeit von Medikamenten gegen Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Verdauungsbeschwerden, Lustlosigkeit, Depression und viele andere Störungen, deren körperliche Ursachen zumeist mit seelischen Belastungen zusammenhängen. Gegen Krankheiten dieser Art gibt es jeweils sehr verschiedene Mittel, die aber ganz ähnlich zusammengesetzt sind. Dennoch schwört der typische Tabletten-Konsument auf »sein« Mittel wie auf ein Amulett. Der Vergleich der Wirkung solcher Medikamente mit der von Placebos, die keine wirksamen Stoffe enthalten, zeigt die Bedeutung des Glaubens an den Heilwert. Die Gifte, die in vielen Tabletten enthalten sind, schaffen eine physiologische Abhängigkeit, die sich bis zu einem gewissen Grade mit der vergleichen läßt, die beim Konsum von Rauschgiften entsteht. Die Tablettensucht bleibt freilich viel weniger auffällig, ist meist frei von Schuldgefühlen, erscheint gar als Dienst an der Gesundheit. Auch das Anwachsen des Tablettenkonsums ist ein Symptom für die Belastungen des Einzelnen in der gegenwärtigen Zivilisation, zu der auch die Tabletten-Reklame und die Tabletten-»Mode« gehört. Tabu ist ebenso das »Heilige« wie das »Verbotene«, das zugleich unberührbar ist und deshalb auch nicht erörtert werden darf. Wie die Maori, von denen dieses Wort stammt, so kannten viele Naturvölker strenge Vermeidungsgebote, die den König, Kindheit und Tod, die Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, Verwandtschaftsverhältnisse und sexuelle Beziehungen betrafen. Sie dachten ihre Tabus von einer besonderen Kraft, dem Mana, beschützt, das alle Übertretungen gleichsam automatisch bestraft. Tatsächlich wurden die Verbote unter dem Druck der Gemeinschaft in das eigene Gewissen übernommen; so rief jede Übertretung ein Schuldgefühl und daraus ein Strafbedürfnis hervor, das für Strafe sorgte. Man stellte sich das Tabu ansteckend vor. Alles was mit dem ursprünglichen Verbot zu tun hatte, wurde nun auch unberührbar. Die Tabus folgen keiner rationalen Begründung, gelten vielmehr als ewige Gesetze, die keiner Rechtfertigung bedürfen. Oft sind sie mit religiösen Vorstellungen verklammert, als seien sie von den Göttern selbst erlassen. Sie dürfen ebensowenig wie die Religion infrage gestellt werden; man soll blind an sie glauben. Für die Naturvölker hingen die Tabus eng mit dem Totem als dem Symbol einer göttlich-väterlichen Macht zusammen. Das Kern-Tabu galt (und gilt noch) in allen bekannten Kulturen der Geschlechtsbeziehung zwischen engen Verwandten, dem Inzest. Noch heute ist es so gut wie unmöglich, die ursprüngliche Begründung dieses Verbotes zu erkennen. Darüber hinaus hat die Sexualität an sich etwas Unheimliches, vor dessen Gefahren man sich durch die Einhaltung der Tabus schützen zu können und zu müssen glaubte. Die Tabu-Ordnung war eine erste Gesetzgebung im Interesse des Gemeinschaftslebens. Sie konnte noch nicht auf Einsicht beruhen, sondern war durch magische Vorstellungen und bereitliegende Ängste gesichert. Auch unsere Sittengesetze und die ungeschriebene Moral werden noch von überkommenen Einstellungen beherrscht, die in sich vage bleiben und schon deshalb kaum auf ihren Sinn und Nutzen hin erörtert werden können. Nachdem die im engeren Sinne religiösen Denkverbote verblaßt waren, entstand in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein nahezu allumfassendes Sexual-Tabu. Es galt nicht nur für die unmittelbar sexuellen Dinge, sondern erstreckte sich auf die Körperlichkeit überhaupt, und sogar die Hosen wurden die »Unaussprechlichen«. Seitdem haben sich viele Tabus gemildert, einige abgeleitete Meidungsgebote sind sogar fast verschwunden. Aber einige Grundtatsachen und manche abweichende Formen der menschlichen Sexualität sind noch immer in einen Kreis des Schweigens und der Ausflüchte gebannt. Sehr viel auffallender sind dafür einige politisch-ideologische Glaubenssätze geworden, deren Widersprüchlichkeit nun so wenig gesehen oder aufgezeigt werden darf wie bei irgendeinem der Tabus vergangener Epochen. So dürfen Ideale oft ebensowenig in-frage gestellt werden wie Verbote. Das Tabu schützt beides, das Ziel der Verehrung wie die Grenzen des Erlaubten. Fast immer verdeckt es einen Konflikt zwischen Begehren und Angst. Dann besteht es geradezu darin, daß dieser Konflikt nicht näher untersucht werden darf. Es ist, als müßte jede kritische Betrachtung zu einer Auseinandersetzung führen, die die gewohnten Lebensregeln erschüttern würde. So wird der Konflikt nicht gelöst, sondern bleibt in der Schwebe. Die Lage, in der er »festgestellt« worden ist, läßt sich aber nur dadurch aufrechterhalten, daß man sich ihrer nicht bewußt wird. Das Tabu bewacht die Verdrängung. Manche Kulturkritiker haben in jeder Abschwächung von Tabus eine Gefahr für die Gesellschaft gesehen. Aber sollten nicht Regeln, deren Notwendigkeit einsichtig gemacht werden kann, und die sich der Vielfalt des Lebens anpassen lassen, doch besser helfen als starre Tabus, deren Einhaltung einzig mit der Fiktion begründet werden kann, daß sie immer schon gegolten haben sollen?

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