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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Inzest

Autor
Autor:
Werner Eberlein

sexuelle Beziehung zu nahen Blutsverwandten, die in allen bekannten Kulturen einem strengen Tabu unterworfen ist. Das Verbot bezieht sich nicht auf die Gefahren, die eine Inzucht mit sich bringen mag. Das Tabu stammt aus einer Zeit, in der man die Zusammenhänge der Fortpflanzung noch nicht durchschaute. So hat man es als Ergebnis eines Instinktes hingestellt. Aber wenn sich das Verbot wirklich von selbst verstünde, hätte man seine Übertretung nicht mit den schwersten Strafen zu bedrohen brauchen. Es steht im Zusammenhang mit der ungewöhnlich langen Abhängigkeit des menschlichen Kindes von seinen Eltern. Das Verbot sexueller Beziehungen zu seinem Eltern oder Geschwisterteil soll die Bindung des Kindes einschränken und die Ablösung aus der Familie erleichtern. Am stärksten waren die Inzest-Verbote in Totem-Gesellschaften. Hier erstreckten sie sich auf einen viel größeren Personenkreis, als er heute von dem Tabu betroffen ist. Es waren Brudergesellschaften, die zum ersten Mal eine größere Gesellschaft umfaßten. Ihr Beispiel zeigt, daß das Inzest-Tabu mit seiner Einschränkung der familiären Bindungen der Notwendigkeit entsprach, einen Teil der Liebe (Libido) in die Gemeinschaftsbildung abzulenken. Am schärfsten gilt das Verbot der sexuellen Beziehung des Sohnes zur Mutter; es wird geschützt von der Rivalität zwischen Vater und Sohn (Oedipus-Komplex). Nicht ganz so schwer ist das Verhältnis zwischen Tochter und Vater betroffen. Das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester ist in einigen Sagen (und später auch in manchen Romanen) sogar idealisiert worden. Bekanntlich waren die ägyptischen Pharaonen zu Geschwister-Ehen verpflichtet; damit erfüllten sie stellvertretend für ihre Untertanen einen urtümlichen Wunsch. Eine Nachwirkung dieser Sitte waren die Verwandtenehen in den Herrscherhäusern des alten Europa. Die psychische Bedeutung der Inzest-Neigungen liegt in der Entwicklung des Kindes begründet. Die erste Liebe muß sich ja auf die nächsten Menschen richten, auf die Mutter, ihre zärtliche Fürsorge und ihre Wärme, auf den Vater als Vorbild und Schutz, auf die Geschwister als erste Gespielen. In den ersten Lebensjahren vollzieht sich eine Entwicklung der Sexualität, die zur vollen Bindung des Knaben an die Mutter als Liebesobjekt führen müßte, würde sie nicht durch die 0edipus-Situation im Zusammenhang mit der (vermeintlichen) Kastrationsdrohung unterbrochen. Danach beginnt die Latenz-Zeit, in der die sexuellen Strebungen stark zurücktreten. Mit der Pubertät setzt die Sexualentwicklung, in einem »zweiten Ansatz«, erneut ein. Inzwischen aber sind durch die Erziehung die Hemmungen aufgebaut worden, die dann die Sexualität eindämmen. Doch das Verbot der ersten Liebe beeinträchtigt die Liebesfähigkeit über haupt. Da die erste Liebe zur Sünde erklärt worden ist, gerät die Sexualität insgesamt ins Zwielicht des Verbotenen. Die erste Liebe, deren stürmische Äußerungen längst vergessen, das heißt verdrängt worden sind, bleibt unbewußt oft so vorbildlich, daß jede spätere Liebe nur wie ein Ersatz erscheint. Der Einschnitt ist beim Knaben schärfer als beim Mädchen, dessen erste Liebe ja auch der Mutter galt, und das sich erst nach der »OedipusSituation« dem Vater zuwendet (Elektra-Komplex). Das Vorbild der Liebe des Mädchens zum Vater kann sich in der Liebeswahl der erwachsenen Frau viel offener ausdrücken. Doch das Verbot wirkt auch hier nach, etwa in der Neigung vieler Frauen zu einer verbotenen oder doch geheimen Liebesbeziehung. Der Mann trennt oft die zärtliche Liebe zu einer geachteten Frau, wie seine Mutter es war, von der sinnlichen Begierde, die ihm nur einer niedrigen Frau gegenüber erlaubt zu sein scheint. Zur Reifung gehört es, sich auch innerlich von den Verknüpfungen (Komplexen) aus den Wünschen und Verdrängungen der Kindheit zu lösen.Sigmund Freud hat in dem Modell des Ödipuskomplexes die Inzestphantasie als wesentliches Merkmal der unbewußten Dynamik beschrieben. Ein vollzogener Inzest ist jedoch viel häufiger, als die Polizeistatistik erweist. Die Opfer des einen finden dabei nur selten den Schutz des anderen Elternteils. Besonders belastend sind die Sprachverwirrungen und Drohungen, mit denen die schuldigen Er-

wachsenen versuchen, ihre Taten zu vertuschen. Sie führen zu hartnäckigen Ängsten, sexuellen Störungen und manchmal zu Borderlinephänomenen bei den Opfern.

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