A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Drogenabhängigkeit

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen

Im Jahr 1964 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgeschlagene Bezeichnung für den Zustand seelischer und/ oder körperlicher Abhängigkeit von Stoffen mit Wirkung auf das Nervensystem (Psychopharmaka). Die seelische Abhängigkeit besagt, daß eine Droge so regelmäßig angewendet werden muß, daß sie immer im Organismus bleibt, um einen angenehmen Zustand zu erzielen oder einen unangenehmen zu verhindern. Physiologische, körperlich bedingte Abhängigkeit bedeutet, daß durch die wiederholte Anwendung einer Droge der Körper sich so umgestellt hat, daß bei ersatzloser Absetzung oder Verminderung der Dosis erhebliche, körperlich nachweisbare Entzugserscheinungen auftreten. Einen Zustand hoher seelischer und körperlicher Abhängigkeit, meist verbunden mit einer Neigung, die Dosis zu steigern (um die nachlassende Empfindlichkeit des Körpers auszugleichen, das heißt trotzdem noch den stimmungshebenden Effekt der Droge zu spüren), nennt man Drogensucht. Bei Gewohnheitsbildung besteht meist keine Neigung, die Menge der Droge zu steigern. Die Abhängigkeit wird vom Drogenkonsumenten charakteristischerweise verleugnet; er behauptet, jederzeit aufhören zu können, doch keinerlei Grund zu sehen, warum er es tun solle, schließlich sei er ja nicht abhängig... Die Art der Drogenabhängigkeit wird nach den spezifischen Merkmalen der einzelnen Rauschdrogen unterschieden; man findet in der WHO-Einteilung:

1. Barbiturat-Alkohol-Typ. Barbiturate sind der Grundstoff der meisten Schlafmittel. Ähnlich wie Alkohol wirken sie betäubend auf die Gehirnrinde, welche die Nervengrundlage für die höheren Bewußtseinsleistungen bildet - darunter auch für die vom Bewußtsein ausgeübte Hemmung, Kritik und Kontrolle (Über-Ich). Der von Schlafmitteln, Alkohol oder beidem Abhängige sucht meist die kritischen und ihn deprimierenden Äußerungen seines Über-Ich auszuschalten und im betäubten Vergessen eine trügerische Zufriedenheit zu finden.

2. Morphin-Typ. Die Opiate, also die Abkömmlinge des Opiums, von denen Morphin und Heroin am bekanntesten sind, gehören zu den stärkste Abhängigkeit auslösenden Rauschgiften. Sie spenden eine durch die Anwendung (Einspritzen in die Vene) sehr rasch einsetzende, heftige Euphorie, die freilich durch sehr unangenehme Entzugssymptome bezahlt werden muß. Der typische Morphin- oder Heroinsüchtige muß die Dosis ständig steigern, um über den Ausgleich der sehr belastenden Entzugssymptome hinaus noch Lust zu gewinnen. Die Opiate bauen ihre Herrschaft in der Regel nicht auf der Lust, die man durch sie gewinnt, sondern auf den Entzugssymptomen auf, die man durch ihre Zufuhr vermeiden kann. Diese Entzugssymptome sind eine «Rache des Nervensystems» auf die dauernde Lähmung durch die betäubende Droge. Es hat sich auf ein anderes Gleichgewicht eingestellt, um die Lebensfunktionen unter dem Einfluß des Opiats aufrechtzuerhalten. Läßt dieser Einfluß nach, dann kommt es zunächst (für einige Tage, höchstens eine Woche lang) zu heftigen, überschießenden Reaktionen wie Schwitzen, Magenkrämpfe, Kältegefühl, heftige Übelkeit.

3. Halluzinogen- oder Cannabis-(Hanf-)Typ. Die typischen Halluzino-gene sind die Pilzdroge Psilocybin, das Kaktusgift Meskalin, das synthetisch (aus Mutterkorn-Alkaloiden) hergestellte Lysergsäurediäthylamid (LSD) und das am weitesten verbreitete Haschisch (Haschisch ist das reine Harz der Hanf-Pflanze Cannabis indica; Marihuana enthält noch Pflanzenteile und wirkt meist schwächer; die Konzentration des wirksamen Delta-Tetra-Hydrocannabinol kann je nach Herkunft und Zubereitung der Droge sehr stark, bis um den Faktor 100, schwanken). Die Abhängigkeit von diesen Drogen ist vorwiegend psychisch. Körperliche Veränderungen und Entzugssymptome sind sehr selten; die Möglichkeit, sie stabil, in der Art eines Genußmittels, zu verwenden, scheint erheblich häufiger gegeben als bei den Opiaten und dürfte in etwa der Situation bei Alkohol entsprechen. Dennoch sollte man nicht übersehen, daß alle seelisch wirksamen Drogen die Leistungen des Gehirns herabsetzen und dadurch, wenn sie ständig verwendet werden, die Aussichten auf eine ohne die Pseudo-Lösung der Droge befriedigende Lebensgestaltung vermindern.

4. Amphetamin-Typ. Die Amphetamine sind Weckmittel. Sie steigern die seelische Leistungsfähigkeit, wenn in einer Ausnahmesituation (wie bei Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg) langdauernde Konzentration ohne Ermüdungserscheinungen und Nachlassen der Aufmerksamkeit gefordert wird. Diese Wirkung zeigt auch die Gefahr der Weckamine (Amphetamine; Handelsnamen: Preludin, Pervi-tin; im Jargon der Drogen-«Szene»: Speed, Pep-Pills, Purple Hearts...). Sie führen, dauernd genommen, zu schweren Schlafstörungen, die dann oft zusätzlich durch Schlafmittel bekämpft werden. Der Betroffene läuft Gefahr, die natürliche Ermüdung als Warnsignal vor völliger Erschöpfung seiner körperlichen und seelischen Energien zu übertönen, seine Reserven aufzubrauchen und endlich mit den Zeichen einer schweren seelischen Störung (Psychose), Wahnwahrnehmungen und Wahnvorstellungen zusammenzubrechen . 5. Cocain-Typ. Das Alkaloid des Co-ca-Strauchs gleicht in seiner rasch zur Sucht führenden Wirkung den Opiaten, führt aber zu einer andersartigen körperlichen Abhängigkeit und hat auch andere psychische Wirkungen (es steigert zunächst die Leistungsfähigkeit und Aktivität). Crack, eine zum Rauchen geeignete und daher sehr schnell wirkende Coca-Zubereitung, ist zu einem der gefährlichsten Suchtgifte geworden.

Die WHO-Einteilung der Drogenabhängigkeit hat den Versuch unternommen, den unklaren Begriff der «Sucht» (man spricht ja auch von Fettsucht, obwohl Essen kaum als Droge angesprochen werden kann) durch besser abgegrenzte Begriffe zu ersetzen. Die Einteilung nach Drogen-Typen wird freilich der Tatsache nicht gerecht, daß der typische Drogenkonsument heute polytoxikoman ist, also viele verschiedene Rauschmittel verwendet. Die Entstehung der Drogenabhängigkeit ist ein von vielen Bedingungen bestimmtes Geschehen: Individuelle, psychologische Einflüsse (ungünstige Familienverhältnisse in der Kindheit, große Unterschiede zwischen den Ansprüchen an das Leben und den tatsächlichen persönlichen Möglichkeiten, eine Neigung zu Depressionen) wirken mit den körperlichen Veränderungen durch die Rauschdrogen und sozialen Einflüssen zusammen: Alkoholkonsum als Zeichen von «Männlichkeit», Haschischkonsum als Zeichen von «Protest gegen das Establishment», Verwendung von Halluzinoge-nen in primitiven Religionen und in der Subkultur der Hippies, Neugier, die durch sensationelle Berichte in den Massenmedien geweckt wird. Die Behandlung der Drogenabhängigkeit ist daher, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben soll, ähnlich umfassend anzulegen. Die reine Entziehung in einer Nervenklinik beseitigt nur die körperliche Abhängigkeit, läßt aber die seelische meist unverändert, ändert weder die zugrunde liegenden neurotischen Konflikte noch die soziale Situation des Drogenabhängigen, so daß eine Rückfallhäufigkeit von bis zu 90 Prozent nicht erstaunlich ist. Wichtig ist in der Behandlung eine langfristige, intensive psychosoziale Betreuung, wie sie unter anderem Selbsthilfegruppen (etwa die Anonymen Alkoholiker und Synanon) vermitteln.

Vorhergehender Fachbegriff im Lexikon:

Nächster Fachbegriff im Lexikon:

Psychology48.com

Das freie Lexikon der Psychologie. Fundierte Informationen zu allen Fachgebieten der Psychologie, für Wissenschaftler, Studenten, Praktiker & alle Interessierten. Professionell dargeboten und kostenlos zugängig.

Psychologielexikon
Psychologie studieren

Modernes Studium der Psychologie sollte allen zugängig gemacht werden.