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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Neugier

Autor
Autor:
Klaus-Dieter Zumbeck

das Verlangen nach neuen Erfahrungen, besonders deutlich im Gegensatz zum Verharren in Gewohnheiten und Traditionen. Die erste Neugier des Menschen bezieht sich auf seine sexuelle Beschaffenheit und die des anderen Geschlechtes. Aus den Partialtrieben des Voyeurismusund Exhibitionismus, die mit der kindlichen Sexualforschung erwachen, stammt letzten Endes jeder Forschungsdrang überhaupt. Die Sphinx fragte Oedipus: »Welches Tier ist das? Es läuft am Morgen auf allen Vieren, am Mittag auf zwei Beinen, am Abend auf dreien.« Die Antwort mußte lauten: der Mensch, der als Kind krabbelt, als Erwachsener aufrecht geht, als Greis einen Stock braucht. Das Rätsel verdeckt die eigentliche Frage: Woher kommt der Mensch? Wir können die Welt um uns nur von uns selbst her begreifen. In allen Dingen, die wir erforschen, erforschen wir eigentlich unsere Beziehung zu ihnen. In der Psychologie können wir der Notwendigkeit nicht mehr entgehen, etwas Neues über uns selbst zu erfahren, über das wir uns vielleicht gern noch eine Weile hinweggetäuscht hätten. Dennoch kann die Neugier immer nur ein Zug sein, der mit dem Gegenzug der Einrichtung im Vertrauten ausgewogen werden muß. Was die Neugier erforscht, soll uns eines Tages ja auch vertraut sein. Die Jagd nach dem Neuen nur um des Neuen willen wäre eine einseitige Sucht. Neurose, eine Erkrankung, die von seelischen Störungen ausgeht. Oft ist sie ohne jeden körperlichen Befund, also nicht organisch, sondern rein »funktionell«. Sie kann aber auch Symptome einer körperlichen Krankheit zur Folge haben wie bei der Hysterie im engeren Sinne. Die psychosomatischen Krankheiten ergreifen das seelische wie das leibliche Wesen in gleicher Weise. Die Neurosen sind das Ergebnis eines unverarbeiteten Konfliktes zwischen Triebwünschen und den Hindernissen oder Hemmungen, die ihrer Befriedigung entgegenstehen. Wird ein Triebwunsch durch äußere Umstände versagt, wird besonders eine Triebhandlung mitten in ihrem Verlauf unterbrochen, dann kann die Enttäuschung zu einer Aktual-Neurose führen, die alsbald wieder abklingen mag, wenn sich nicht Erfahrungen ähnlicher Art ständig wiederholen und sich ihre Wirkung derart summiert. Das geschieht zum Beispiel bei der Gewohnheit, den Geschlechtsverkehr vor seinem Höhepunkt zu unterbrechen (Coitus interruptus, in der Umgangssprache »Rückzieher« genannt). Solche Frustrationen lösen ein starkes Maß von Angst aus. Ein Unfall, das Mitbetroffensein durch eine Katastrophe, eine akut bedrohliche Situation im Kriege und ähnliche Ereignisse, die plötzlich die Sicherheit des eigenen Lebens infrage stellen, im Grunde also die Selbstliebe (den Narzißmus) berühren, können zu einer traumatischen Neurose führen, deren Folgen sich von denen der übrigen Neurosen markant unterscheiden. Diese Neurosen beruhen im wesentlichen auf einem inneren Konflikt. Die Triebwünsche stoßen auf Hemmungen, wie sie sich aus der Zuwendung zur mitmenschlichen Umwelt ergeben. Es geht um Triebwünsche, deren Verwirklichung die Abwehr, die Strafe oder den Liebesentzug der Nächsten oder der Gemeinschaft zur Folge haben könnte. Diese Umwelt hat bestimmte Gebote und Verbote gelehrt, die als Moral verinnerlicht und ins Über-Ich (Gewissen) aufgenommen wurden. Ein Verstoß gegen diese Wertordnung würde nun auch dann als Sünde empfunden werden, wenn niemand sonst ihn bemerken könnte. Er würde als Verstoß gegen das Ich-Ideal, also gegen die Selbstachtung wirken. In diesem Dilemma versucht der Mensch unbewußt, seinen Triebwunsch irgendwie mit seinen Hemmungen zu vereinbaren. Der Triebwunsch wird nicht aufgegeben, sondern für seine Befriedigung irgendein Ersatz gesucht, der weniger auffällig wäre, nicht offenkundig unter das Verbot fiele und deshalb auch nicht die gefürchteten Folgen hätte. Zugleich bleibt die Hemmung so stark, daß sie keine Trieblust gestattet; die Ersatzbefriedigung erscheint als Leiden und Krankheit. Eine besondere Rolle unter den gehemmten Triebwünschen spielen jene sexuellen Strebungen, die von der Moral als abnorm betrachtet werden, also die der nicht-genitalen Partialtriebe, des Sadismus und Masochismus und der Homosexualität. In der Neurose wird besonders heftig unterdrückt und als Krankheit erfahren, was in der Perversion in oft einseitiger Weise freigegeben und lustvoll erlebt wird: »Die Neurose ist das Negativ der Perversion« (Freud). In den Symptomen der Hysterie erkannte Freud die symbolische Darstellung sexueller Wünsche. Hier fließen also Trieb und Hemmung unmittelbar zusammen. Einen anderen Weg geht die Zwangsneurose. Sie stellt einen Versuch zur Absicherung gegen die eigenen Triebwünsche dar. Es werden Dinge gefürchtet oder vermieden, die irgendwie an das Verbotene erinnern oder den Trieb neu herausfordern könnten (Phobien). Gewisse verbotene Regungen werden durch entgegengesetzte Anstrengungen in Schach gehalten. Aus Schmutzliebe wird Sauberkeitsfanatismus, wie beim Analcharakter; aus Schaulust wird Prüderie; aus Sadismus wird Mitleid; aus Homosexualität wird die wütende Bekundung ei ner angeblich ausschließlichen Heterosexualität. In der Überbetonung solcher Regungen verrät sich, daß sie Reaktionsbildungen sind (vgl. Überkompensation). Manchmal kommt es in Zwangshandlungen zur symbolischen Darstellung des Konfliktes und seiner Abwehr. Typisch dafür ist der »Waschzwang«, mit dem gleichsam die Sünde, zu der man sich unbewußt versucht fühlt, immer wieder »abgewaschen« wird. Der »Erfolg« der Neurose liegt einmal darin, daß der Konflikt aus der Welt geschafft zu sein scheint, ohne daß er hätte gelöst werden müssen. Aber unbewußt schwelt er weiter und macht eben krank. Es bedarf großer Anstrengungen, um ihn unbewußt zu halten, sodaß man nicht erneut mit ihm konfrontiert wird. Dieses Maß an Kraft geht der Bewältigung der eigentlichen Lebensaufgaben verloren. Doch es gibt noch einen zweiten, »sekundären Krankheitsgewinn«. Der Kranke meint, mit seiner Neurose die Schonung und Fürsorge der nächsten Mitmenschen sichern zu können. Von hier aus ist es zu verstehen, daß so viele Neurotiker ihre Krankheit eigentlich nicht aufgeben wollen: sie fürchten nicht nur, ihren Konflikt nun voll erkennen und dann in einer Entscheidung lösen zu müssen, sondern auch, den Schonraum zu verlieren, ohne daß sie schon wissen können, was sie dafür gewinnen. Bei Neurosen, zu denen die sadistisch-masochistischen Triebwünsche entscheidend beigetragen haben, tritt eine noch ernstere Schwierigkeit hinzu. Hier kann die Neigung zur Aggression unter dem Druck des Verbotes in den Wunsch zur Selbstbestrafung umgeschlagen sein. Die Krankheit befriedigt also das masochistische Strafbedürfnis und beruhigt so das unbewußte Schuldgefühl. Die Bereitschaft zu neurotischen Reaktionen ist anlagebedingt. Sie wird verstärkt durch eine neurotische Umgebung, so vor allem in einer Familie, in der die Beziehungen der Mitglieder zueinander von unausgesprochenen, unbewußten Konflikten beherrscht werden. Überhaupt sind Neurosen sehr ansteckend. Nicht selten ergreifen sie eine ganze Gruppe oder eine Masse. Es ist als ob das Beispiel anderer die eigenen Konflikte aktualisiert, verschärft und sie zu einem ähnlichen Ausdruck nötigt wie bei dem »Vorbild«. Die Konflikte, die zur Neurose führen, sind in der Kindheit begründet. In dieser Zeit äußern sich die Triebe zunächst ungezähmt. Zugleich ist das Kind von der Zuwendung seiner Nächsten noch ganz und gar abhängig. Es kann die Berechtigung der Regeln, die die Befriedigung seiner Wünsche einschränken, noch nicht einsehen. Es erwartet eine Liebe, die fraglos gewährt wird, und nicht nur dann, wenn man sie durch Gehorsam verdient. Diese Liebe will das Kind auch nicht mit anderen teilen müssen. So erfährt es viele Versagungen. Der Kompromiß zwischen Trieb und Hemmung wird verweigert, und da mit entsteht die Neurose. Diese Kindheitsneurosen bleiben oft von der Umgebung unbemerkt, werden als normale Reifungsschwierigkeiten angesehen und scheinen nach einer Weile von selbst überwunden zu sein. In Wahrheit lassen sie Narben zurück, von denen später die Neurose eines Erwachsenen ausgehen kann. Auf diesem Zusammenhang beruht die psychoanalytische Behandlung neurotischer Krankheiten. Sie besteht nicht nur in einer Analyse des Konfliktes, die dessen Faktoren bewußt macht, und der Überwindung der Widerstände, die einer Einsicht in den Konflikt entgegenstehen. Dieser Vorgang ist vielmehr nur möglich mit Hilfe der Übertragung. Der Patient wendet seinem Therapeuten die Gefühle zu, die einst den wichtigen Personen der Kindheit galten. Er leistet seine Mitarbeit dem Arzt »zuliebe«. So werden die liebevollen, jedoch auch die rebellischen Beziehungen zum Vater, zur Mutter, zu Geschwistern wiederbelebt. Über der Neurose, die den Kranken zum Arzt geführt hat, baut sich eine künstliche Neurose auf aus den Beziehungen, die in der Therapie entstehen. Diese »Übertragungsneurose« wird dem Analytiker unmittelbar einsichtig, weil er ihre Entstehung miterlebt und sie weitgehend steuern kann. Da sie aber eine Wiederholung der Kindheitskonflikte ist, auf die die Krankheit letztlich zurückgeht, wird mit der Übertragungsneurose zugleich auch der eigentliche Krankheitskonflikt durchgearbeitet. Das gilt so nur bei Erkrankungen, die auf einer Störung der Liebesbeziehung zu anderen zurückgehen, nicht für die narzißtischen Neurosen, bei denen das Selbstgefühl schwer gestört ist. Auch sie beruhen auf einer kindlichen Auffassung, nämlich der Überschätzung des Ich, das dann »gekränkt« – krankgemacht – worden ist. Abgesehen von den Aktual und den traumatischen Neurosen läßt sich sagen, daß die neurotische Haltung ein Festhalten an der Kindlichkeit, ein Infantilismus ist. Der Neurotiker verhält sich als Erwachsener zu seinen nächsten Mitmenschen noch so, wie sich das Kind zu den Mitgliedern seiner Familie verhalten hat. Weil die Konflikte der Kindheit nicht gelöst, sondern verdrängt worden sind, bleiben sie im Unbewußten unverändert, auch wenn die realen Lebensumstände, Anforderungen und Möglichkeiten längst andere geworden sind. Die Wirklichkeit wird verkannt. Ihre Erkenntnis wird abgewehrt, weil sich aus ihr die Forderung nach einer selbstverantwortlichen Entscheidung ergäbe, wie sie das Kind noch nicht treffen mußte. Neben der neurotischen Krankheit, die das Leben ernstlich behindert, gibt es viele neurotische Zustände und Äußerungen, deren Folgen nicht als Krankheit empfunden werden. Dann melden sich die Konflikte als Nervosität, in aufwühlenden Träumen, in Fehlleistungen. Eine scharfe Grenze zur Krankheit läßt sich nicht ziehen. Unter den Bedingungen der kompli zierten modernen Kultur ist ein gewisses Maß neurotischer Störungen nahezu allen Menschen eigen. Man könnte auch die Gesellschaft insgesamt als neurotisch bezeichnen. Denn es gibt in ihr eine Reihe mitmenschlicher Konflikte, die nicht kraft bewußter Entscheidungen ausgetragen, sondern verdrängt und auf einen Ausweg verschoben werden, an dem sich der eigentliche Konflikt nicht mehr ohne weiteres erkennen läßt. Wie bei der individuellen Neurose läge auch hier eine Hilfe nur darin, sich diese Grundkonflikte bewußt zu machen, ihre Realität zu erkennen und sie danach in vernunftbestimmter Weise zu lösen.

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