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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Sadismus

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms

die sexuell betonte Lust an Unterwerfung und Grausamkeit, benannt nach dem Marquis de Sade (1 1814), in dessen Werken diese Tendenz eine überragende Rolle spielt. Die Lust an Aggression und Zerstörung entstammt nach psychoanalytischer Auffassung einem Destruktionstrieb, der sich unter Umständen auch gegen die eigene Person wenden kann. Freud meinte sogar, er sei ursprünglich ein Todestrieb, der erst später nach außen, gegen andere und anderes abgelenkt werde. Die Neigung zur Destruktion vermengt sich beinahe immer mit den Selbsterhaltungs und Sexualtrieben, die Freud als Einheit sah. Die auffälligste Form der Vermischung ist der erotische Sadismus und sein Gegenstück, der Masochismus. Die Lust, zu herrschen und leiden zu machen, ist untrennbar verbunden mit der Lust, beherrscht zu werden und selbst zu leiden. So spricht man oft von »Sadomasochismus« oder von »Algolagnie«, zu deutsch: Schmerzwollust. Doch ist die Lust am eigenen oder fremden Schmerz nicht immer entscheidend, oft nicht einmal erkennbar. An die Stelle des Schmerzes kann die Demütigung, die Beschämung, ja die völlig unpersönliche Zerstörung treten. Diese Tendenzen sind bei jedem Menschen vorhanden, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Wie sie sich entwickeln, hängt von Umwelterfahrungen namentlich in den frühesten Lebensstadien ab. Besonders deutlich zeichnen sich die sadistischen Tendenzen in der zweiten frühkindlichen Phase ab, die »anal-sadistisch« heißt, weil sie sich in ihr gemeinsam mit der analen Erotik entwickeln. Ihretwegen nennt man dieses Stadium gern »Trotz « oder »Kaputt-mache-Alter«. In der normalen Erotik des reifen Menschen tragen die sadistischen Triebkräfte beim Manne zu der aggressiven Aktivität bei, ohne die er sexuell nicht funktionsfähig wäre. Ähnlich könnte das bei der Frau unvermeidliche Maß an Passivität als masochistisch bezeichnet werden. Aber auch der Mann will, kann und muß sich anpassen, unterordnen, hingeben. Entsprechend ist bei der Frau eine »sadistische« Aktivität und Besitzlust durchaus natürlich und notwendig. Im allgemeinen sind die sadistischen Triebe durch die kulturelle Erziehung gedämpft. Grobe Kraft wird in der Geschlechter-Beziehung vor allem von triebstarken, kulturell wenig gehemmten Menschen eingesetzt. Andererseits finden sich ausgeprägte sadistische Neigungen gerade auch bei schwachen Menschen, die oft zurückgesetzt, enttäuscht und beherrscht worden sind, und die sich auf diese Weise für ihre Frustrationen schadlos zu halten versuchen. Die Verbindung von Herrschsucht und Grausamkeit zur Erotik offenbart sich in vielen Formen, in denen der Sadismus kaum auffällt. So gehören Liebesbisse, spielerisches Krallen und Kratzen beinahe wie von selbst zum Liebesspiel. Die Lust, einen Partner zu besitzen oder ihn nach eigenen Wunschvorstellungen zu modeln, ihn klein und abhängig zu halten, ist schon ein Ansatz zur Versklavung. Deutlicher wird der Sadismus bei spezielleren Liebesspielen, etwa einer leichten Flagellation oder Fesselung, mit der Erziehungsmaßnahmen wie in der Kindheit oder Strafen wie in der altmodischen Ehe und Gesindezucht nachgeahmt werden (Flagellantismus). Die Grenze zur Perversion verläuft dort, wo solche Vorstellungen oder Handlungen nicht nur beiläufig und gelegentlich zum Vorspiel gehören, sondern zur sexuellen Erregung und Befriedigung unverzichtbar geworden sind. Im Extrem ersetzen die sadistischen Phantasien und Taten ganz die sexuelle Vereinigung. Die meisten Sadisten in diesem Sinne halten sich dennoch von Vergehen zurück. Sie beschränken sich oft auf grausame Vorstellungen, die manchmal durch entsprechende pornographische Texte und Bilder genährt werden; ihre einzige Handlung ist dann die Selbstbefriedigung. Manche suchen und finden Partner, die bis zu einem gewissen Grade zum Erdulden von Demütigungen und Mißhandlungen bereit sind, sei es dank einer entsprechenden masochistischen Veranlagung, sei es in einer Art Prostitution gegen Bezahlung, oder sei es, weil sie aus Liebe den Wünschen des Partners entgegenkommen möchten. Zu Vergehen an unfreiwilligen Opfern kommt es nur ausnahmsweise und nur bei Menschen, bei denen über die sexualpsychische Störung hinaus die gesamte Charakterentwicklung schwer beeinträchtigt worden ist. Sehr typisch für solche Fehlentwicklungen ist eine Lebensgeschichte, in der es keine Erfahrung von Liebe gegeben hat, sodaß gleichsam erzwungen werden soll, was niemand freiwillig gewährt hat. Oft läßt sich noch bei den Taten der Triebmörder erkennen, daß sie ihre Opfer eigentlich bestrafen wollen, und am Ende gar sich selbst, indem sie die Verfolgung auf sich ziehen. Die Strafen, die Sadisten verhängen und Masochisten erleiden wollen, gelten sehr oft eigentlich der Sexualität, die als sündig gelehrt und erlebt worden ist. Aber der Sadismus kann sich scheinbar auch völlig von der Sexualität lösen und doch einen Lustgewinn bringen. Sehr viel Sadismus kann sich hinter Motiven der Strafe, der Zucht, der Aufrechterhaltung von Macht und Ordnung und des Lebenskampfes verstecken, am gefährlichsten wohl in der Neigung zum Kriege. Auf solche Weise wird zugleich die Zerstörungslust in gesellschaftlich akzeptierte Formen gebunden. Es fragt sich, ob die Absättigung sadistischer Neigungen mithilfe der Förderung des Sportes oder durch das Angebot destruktiver Spiele, etwa als Kriminal-Romane und Filme, die Gefahren eines latenten Sadismus mindert oder steigert. Zu rechnen ist immer mit diesen Tendenzen.Lustgewinn aus Verhaltensweisen, durch die andere Menschen, gelegentlich auch Tiere, gequält oder verletzt werden. Im Bereich des Sexuallebens entsprechen sich Sadismus und Masochismus (Lustgewinn aus eigenem Erleiden von Erniedrigung und Schmerz), wobei genauere sexualwissenschaftliche Untersuchungen ergeben haben, daß für beide Sexualpartner in einer solchen Verhal-tensfolgc ein spielerischer, unverbindlicher Zug liegt. Wesentlicher als das Zufügen oder Erleiden von Schmerz ist das Phantasiebild des völligen Be-herrschens (für den Sadisten) oder des völligen Ausgeliefertseins (für Maso-chisten). Solche sadomasochistischen Spiele im Einverständnis der Beteiligten dürfen als verbreitete sexuelle Abweichung angesehen werden. Entsprechende Phantasien und Ansätze zu sadomasochistischem Verhalten finden sich häufig auch bei normalen Menschen (Norm). Das Angebot an Lederkleidung, Peitschen, Stiefeln und ähnlichen Attributen in den einschlägigen Versandhäusern zeigt ihre weite Verbreitung. Sehr viel seltener ist die von Sadismus getragene sexuelle Aggressivität; Mord als Bestandteil sexueller Befriedigung kommt wohl nicht häufiger als bei einem unter einer Million Menschen vor. Das Auftreten sadistischer Verhaltensweisen bei bisher unauffälligen Menschen in Versuchungssituationen (häufig bei Aufsehern in Konzentrationslagern) zeigt besonders deutlich, wie Sadismus im Hintergrund einer im übrigen «normalen» Persönlichkeit (autoritäre Persönlichkeit) bestehen kann. Für seine Entstehung gibt es noch keine eindeutige Erklärung; Sadismus scheint ein Ausdruck einer lebensfeindlichen Einstellung, die sich in der Kindheit aus einer Erziehung entwickelt, in der die ursprünglichen Bedürfnisse des Kindes nach Zuwendung, Geborgenheit und Bestätigung seiner Existenz nicht erfüllt werden, sondern das Kind eine Spaltung zwischen seinen Gefühlen und Wünschen auf der einen, den Ansprüchen einer kontrollierenden, strengen Umwelt auf der anderen Seite verinnerlichen muß. Das Bedürfnis nach vollständiger Macht oder Ohnmacht im Sadomaso-chismus drückt einen Mangel an Vertrauen in wechselseitig bestätigende menschliche Beziehungen aus (Rivalität, Ur vertrauen).

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