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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Professionalisierung

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms





Begrifflichkeit

Personen, die einen Beruf ausüben, haben dafür spezielles Wissen erworben, eine institutionalisierte Ausbildung durchlaufen und sich in ihrer Lebensplanung auf eine mehr oder minder vorgezeichnete Berufsbiographie eingestellt. Das gilt für die Angehörigen von Berufen, deren Ausübung (in den deutschsprachigen Ländern) eine Lehre voraussetzt – etwa im handwerklichen, industriellen oder kaufmännischen Bereich, und für Personen in akademischen Berufen. Ihr Studienabschluß, der durch akademische Zertifikate bzw. Titel honoriert wird, hat ihnen vielfach Zugang zu jenen oberen Sektoren des Arbeitsmarktes eröffnet, die durch Positionen mit höherem Einkommen und Prestige gekennzeichnet sind. Besonders solche Berufe bezeichnet man als Professionen. Daneben etablieren sich zunehmend Semiprofessionen, z. B. im Bereich von Krankenpflege, Sozialarbeit oder Verwaltung, deren Ausbildungsgänge ebenfalls wissenschaftsorientiert sind, allerdings (noch) nicht in dem Maße wie die der “vollen” Professionen. In der Soziologie versteht man Professionalisierung nicht nur im Sinne einer beruflichen Entwicklung einzelner Individuen, sondern auch und vor allem im Sinne der Entwicklung von Berufen in ihrer Gesamtheit. Weiter wird Professionalisierung, d. h. die Herausbildung der Berufe von Juristen, Ärzten, Architekten, Ingenieuren usw. nicht lediglich als Teilprozeß oder Teilprodukt, sondern als zentraler Bestandteil des Modernisierungsprozesses von Gesellschaften verstanden (Giddens, 1990). Die folgenden Hauptmerkmale von Professionalisierung sind also zugleich diejenigen von Modernisierung schlechthin: a) die Verwissenschaftlichung der Berufe, b) ihre Ausdifferenzierung, Arbeitsteilung und Institutionalisierung, und c) die Ausbildung von Spezialisten- bzw. Expertenrollen.



Verwissenschaftlichung der Psychologie

Die Geschichte der Psychologie (als Profession) kann also zuerst unter dem Aspekt der Verwissenschaftlichung betrachtet werden: Im Vergleich zu einer “klassischen” Profession wie der Medizin, deren wissenschaftliche Erfolge die Etablierung des Berufsstandes im 19. Jahrhundert vorantrieben, setzte die Entwicklung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft erst spät, und diejenige der Profession in außeruniversitären Berufsfeldern noch später ein – nämlich etwa in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts (Psychologie als Hochschulfach). Schwer entscheidbar erscheint die Frage, inwieweit die umstrittene Einordnung der Wissenschaft Psychologie zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften zunächst auch ein Problem für die Herausbildung beruflicher Praxisfelder dargestellt hat. Später dürfte dann jedoch die Dominanz einer naturwissenschaftlich-empirischen Orientierung – die in Deutschland besonders in Anlehnung an das Wissenschaftsverständnis im angelsächsischen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte – der Profession einen Reputationsgewinn eingebracht haben. Denn das naturwissenschaftliche Wissen mit dem Primat universell und überdauernd geltender Gesetzmäßigkeiten, der Betonung isolierter Ursache-Wirkungszusammenhänge, der Ausrichtung auf immerwährenden Erkenntnis-”Fortschritt” durch Wissenserweiterung etc. schien nicht nur dem Alltagswissen, sondern auch allem anderen wissenschaftlichen Wissen überlegen zu sein. Die Entwicklung der beruflichen Praxis ist nun jedoch nicht einseitig und ausschließlich durch Wissenschaft beeinflußt worden, sondern psychologische Professionalisierung ergab sich auch aus gesellschaftlichen Anforderungen. Gesellschaftlicher Problemdruck und politische Entwicklungen erzeugten Fragen an die Berufspraxis und wurden von dort an die Wissenschaft weitergegeben, was wiederum deren Entwicklung vorantreibt. Professionalisierungsschübe lassen sich etwa im Zusammenhang mit beiden Weltkriegen (Psychotechnik) sowie im Nationalsozialismus (Nazi-Psychologie) ausmachen, als man Psychologen zur Auslese geeigneter Personen für spezifische militärische Aufgaben benötigte (Geuter, 1984). Die quantitativ bedeutsamste Veränderung der Psychologie an den Universitäten und in der Berufspraxis begann Ende der sechziger Jahre (mit dem Anwachsen der Anzahl an Psychologen von etwa 3.000 auf über 30.000 bis zur Jahrtausendwende). Sie fiel einerseits mit einer Expansion der wissenschaftlichen Wissensbestände und andererseits mit einer Expansion des gesamten Bildungssystems zusammen, in deren Folge sich auch das Beschäftigungssystem wandelte, wobei immer mehr Berufsfelder für Psychologen (besonders im Klinischen Bereich) entstanden (Klinische Psychologie, Psychotherapie).



Ausdifferenzierung, Arbeitsteilung und Institutionalisierung der Psychologie

Die Professionalisierung der Psychologie ist von einer zunehmenden Arbeitsteilung zwischen der Psychologie und anderen Professionen sowie zu Abgrenzungen gegenüber der Medizin, den pädagogischen Berufen usw. gekennzeichnet. Und es gab eine zunehmende interne Ausdifferenzierung der Psychologie-Teilbereiche. Konkurrenz und Abgrenzung nach außen begünstigte die Identitätsbildung der Profession und ihre innere Ausdifferenzierung; und umgekehrt trieb die innere Spezialisierung in stark expandierende Teilbereiche die Abgrenzung gegenüber anderen Professionen voran. In dem Maße, wie z. B. klinische Psychologen innerhalb der Profession ihre Spezialisierung als Kliniker ausbauten, mußten sie sich zugleich gegenüber den Medizinern abgrenzen, indem sie wiederum ihre Spezialisierung als Psychologen und damit ihre Bindung an die gesamte Profession hervorhoben. Das gleiche gilt für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologen, für Pädagogische Psychologen und zum Teil auch für die Grundlagenfächer an den Universitäten. Auch die Arbeitsteilung zwischen wissenschaftlicher Psychologie (und hier zwischen Grundlagen- und Anwendungsfächern) und beruflicher Praxis wurde deutlicher. Dies geschah in Wechselwirkung mit der Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Gesellschaften, der berufsständischen Organisationen und ihrer Unterteilung in Sektionen. Beim Vergleich der Professionsentwicklung der Psychologie in unterschiedlichen Ländern (Psychologie in weltweiter Perspektive) fällt auf, daß es die in Deutschland vorhandene Trennung zwischen einer wissenschaftlichen Gesellschaft (der im Jahre 1904 gegründeten Gesellschaft für experimentelle Psychologie, ab 1929: Deutsche Gesellschaft für Psychologie) und einer berufsständischen Organisation (dem 1946 gegründeten Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen) z. B. in englischsprachigen Ländern nicht gibt. Damit stellt sich die Frage, ob Arbeitsteilung und Institutionalisierung nicht auch allzu weit getrieben werden können, so daß sich die für Professionalisierung so wichtige enge Bindung zwischen Wissenschaft und Praxis aufzulösen droht. Bekanntester Ausdruck von Professionalisierung sind sicherlich die eingangs erwähnten akademischen Zertifikate und Titel. In Deutschland gibt es seit 1941 das Diplom als wichtigstes Zertifikat (mit dem dazugehörigen Titel des Diplom-Psychologen), das die Voraussetzung für eine weitere wissenschaftliche Qualifikation und für die Mehrzahl der Zusatzausbildungen nach dem Studium darstellt (Ausbildung in Psychologie). Mit der erwähnten Expansion der Psychologie seit Ende der sechziger Jahre hat die Anzahl der Verbände und Organisationen mit der entsprechenden Anzahl von Zusatzausbildungen (vor allem im Klinischen Bereich) so zugenommen, daß auch hier Nachteile für die Profession angesichts von Überspezialisierung und Unübersichtlichkeit nicht auszuschließen sind.



Ausbildung von Spezialisten- und Expertenrollen

Die Ausbildung von Spezialisten- und Expertenrollen ergibt sich unmittelbar aus den ersten Merkmalen: In dem Maße, wie Diplom-Psychologen in der Praxis auf die anwachsenden Wissensbestände ihrer Wissenschaft zurückgreifen konnten, wurden sie im eigenen und öffentlichen Verständnis zu Experten, die in der Praxis den Klienten bzw. “Laien” ohne ein solches Wissen gegenübertraten. Hinzu kam die Spezialisierung durch Zusatzausbildungen. Stärker als z. B. in der Medizin (wo die Fachärzte in Relation zu den “Allgemein”-Medizinern immer zahlreicher wurden) stellt sich allerdings in der Psychologie die Frage, ob in den zentralen Berufsfeldern nicht neben den spezifischen Qualifikationen immer auch zugleich fachübergreifende “Schlüsselqualifikationen” sozialer und kommunikativer Art erforderlich sind. Überdies nehmen Psychologen auch ihre Klienten nicht mehr nur als unmündige “Laien”, sondern zunehmend als Experten wahr. Immer stärker entwickelt sich in der Profession ein neues Verständnis der eigenen Rolle des Experten im Sinne eines Mediators von unterschiedlichen Wissensbeständen oder im Sinne eines Moderators bei der Vermittlung unterschiedlicher Interessen, Werte und Normen.



Professionalisierung und Geschlecht

Verschiebungen im Geschlechterverhältnis sind für die Profession noch bedeutsamer als alle anderen Veränderungen in den letzten Jahren – wie z. B. die Zusammenführung der ost- und westdeutschen Psychologie nach der Wende (Schorr, 1995). Während es in den 70er Jahren noch ebenso viele weibliche wie männliche Studienabsolventen gab, hat sich der Anteil der Frauen gegenüber dem der Männer bis in die 90er Jahre hinein verdoppelt. Ob sich auch der an das Studium anschließende Beruf insgesamt zu einem “Frauenberuf” entwickelt, ist unklar. Deutlich ist jedoch im Augenblick jenes Phänomen, das in der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung als horizontale Arbeitsmarktsegregation bezeichnet wird: Psychologinnen überwiegen in bestimmten Bereichen, z. B. in der Klinischen Psychologie, während andere Felder, z. B. die Arbeits- und Organisationspsychologie, eher Domänen von Männern sind. Deutlich ist auch eine vertikale Segregation: Frauen gelangen in allen Bereichen weniger häufig in höhere und sehr selten in höchste Positionen ( “Marginalisierung” der Frauen: Wetterer, 1995). Eine Erklärung dafür ist, daß die Berufsverläufe von Frauen viel stärker als die von Männern durch familial bedingte Unterbrechungen und Teilzeitarbeit bestimmt sind.



Ausblick

Die wichtigsten Berufsfelder zur Jahrtausendwende in Deutschland lassen sich zumindest grob anhand der Mitgliedszahlen in den entsprechenden Sektionen des Berufsverbandes identifizieren: Die mit Abstand meisten Mitglieder arbeiten in der Klinischen Psychologie, für deren Professionalisierung das 1997 erlassene Psychotherapeutengesetz von besonderer Bedeutung ist, weil es weiterqualifizierten, approbierten Psychologen nunmehr eine eigenverantwortliche Tätigkeit garantiert. Bemerkenswert ist daneben die Professionalisierung der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie sowie Markt- und Kommunikationspsychologie. Die Expansion in diesem Bereich resultiert vor allem aus dem Bedarf an psychologischer Expertise in bislang eher “psychologiefernen” Feldern (Personalwesen, Unternehmensberatung, betriebliche Weiterbildung). Eine dritte größere Gruppe von Psychologen ist im Bildungssystem beschäftigt, in der Ausbildung in Psychologie an Hochschulen sowie an Schulen (Schulfach Psychologie); die Professionalisierung geht mit zunehmender didaktischer Qualifizierung einher. Während sich die Ausdifferenzierung und Spezialisierung noch einmal innerhalb dieser drei größten Teilbereiche der Psychologie (als Profession) fortsetzt, bleiben alle kleineren Bereiche vergleichsweise homogen. Von fortlaufender Professionalisierung im Sinne der Übertragung immer neuer wissenschaftlicher Wissensbestände auf die Praxis kann jedoch auch innerhalb der Schulpsychologie, Verkehrspsychologie oder Rechtspsychologie gesprochen werden. Die Zukunft der Psychologie als Profession im 21. Jahrhundert läßt sich schwer voraussagen. Angesichts der Tatsache, daß es seit Jahren mehr als 10.000 Bewerber für die rund 3500 Studienplätze an Universitäten gibt, kann vermutet werden, daß es einen entsprechenden Andrang auch in den der Psychologie nahestehenden Semiprofessionen gibt und daß Diplom-Psychologen auf dem Arbeitsmarkt vermehrt mit ihnen konkurrieren werden. Die generell zunehmende Akademiker-Erwerbslosigkeit trifft auch Psychologen (Arbeitslosigkeit). Bislang vorteilhafte Professionalisierungstendenzen können in Nachteile umschlagen (Hoff, 1998). “Deprofessionalisierung” könnte sich auch im Zuge des generell schwindenden Vertrauens in wissenschaftliches Wissen ergeben. Die künftige Entwicklung psychologischer Tätigkeitsfelder wird vor allem von gesamtgesellschaftlichen sowie globalen Problemlagen bestimmt sein: von der Entwicklung immer neuerer Technologien (z.B. Medienpsychologie), von der Globalisierung der Wirtschaft (z.B. ökonomische Psychologie), von der Zunahme der Weltbevölkerung und den Migrationstendenzen aus der dritten (und zweiten) Welt in die reichen Industriestaaten (Kulturpsychologie) und von der globalen Umweltkrise (Umweltpsychologie).

Literatur

Geuter, U. (1984). Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Giddens, A. (1990). The consequences of modernity. Oxford: Polity Press in association with Basil Blackwell. (Deutsche Ausgabe 1995: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.)

Hoff, E.-H. (1998). Probleme der Psychologie als Profession. Report Psychologie, 23 (1), 18-25.

Schorr, A. (1995). Psychologen Ost und West - Zwei Gesichter einer Profession? Report Psychologie, 20 (1), 18-28.

Wetterer, A. (1995). Die soziale Konstruktion von Geschlecht in Professionalisierungsprozessen. Frankfurt a. M.: Campus.


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