Grundbegriffe
Aufgabe der Medienpsychologie ist die grundlagenwissenschafliche sowie anwendungsbezogene Erforschung (Angewandte Psychologie) der psychischen Zustände und Vorgänge (sowohl auf der Seite der Produzenten von Medienbotschaften als auch auf der Seite der Mediennutzer) bei der medialen Massen- und Individualkommunikation. Dabei kommt das gesamte Theorie- und Methodeninventar der empirischen Psychologie zum Einsatz.
Medien bieten eine Ausweitung der menschlichen Wahrnehmungs- und Kognitionsorgane (insbesondere der Fernsinne Auge und Ohr) bei der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von in Form komplexer Energiemuster kodierter bedeutungstragender Informationen. Transportmedien (wie Rundfunk und Fernsehen) führen Informationen aus für die unmittelbare Kommunikation zu weit entfernten Orten heran, Speichermedien (wie Buch oder Anrufbeantworter) konservieren Informationen für eine spätere Nutzung. Nach dem Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver (1949) unterscheidet man den Sender einer Botschaft, den Übertragungskanal und den Empfänger. Bei Distributionsmedien (= Medien zur Massenkommunikation) verteilt ein Sender mit technischen Mitteln eine Medienbotschaft an eine große Zahl von Empfängern und es herrscht Einwegkommunikation vor. Für die Individualkommunikation zwischen räumlich und zeitlich voneinander entfernten Personen werden Medien zur wechselseitigen Interaktion benutzt. Im Zuge der weltweiten Vernetzung von Personalcomputern haben sich heute darüber hinaus diverse Zwischenstufen der Gruppenkommunikation entwickelt.
Geschichte
Ausgangspunkt der empirischen Medienwirkungsforschung war die in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts einsetzende Wirkungs- und Kampagnenforschung, deren Fragestellung mit der sog. Laswell-Formel umschrieben werden kann. Die Vorstellung von den starken Medien wurde durch Befunde, wonach die Medienwirkungen sowohl durch interpersonale Beziehungen als auch durch die defensive Selektivität der Rezipienten bedeutend beeinflußt werden, in Frage gestellt und durch das Konzept der schwachen Medien ersetzt. Der gegenwärtigen Medienforschung liegt der Ansatz des aktiven Nutzers zugrunde, der die Medien mit ihren jeweils spezifischen Eigenheiten und Funktionen für seine aktuellen Bedürfnisse und Ziele instrumentalisiert. Die Einsicht in die Bedeutung sozialer Beziehungen war Ausgangspunkt für die Diffusionsforschung; auf Überlegungen zur defensiven Selektivität gründet sich der Nutzen- und Belohnungsansatz. Die Beobachtung von nutzerspezifisch variierenden Medienwirkungen stimulierte zudem die Entwicklung von Rezipiententypologien.
Forschungsmethoden
Für die empirische Medienpsychologie müssen psychologische Variablen auf der Rezipienten- und der Produzentenseite meßbar gemacht sowie die übermittelten Medienbotschaften in ihren kommunikationsrelevanten Eigenschaften exakt beschrieben werden. Für die Bestimmung formaler und inhaltlicher Eigenschaften von Medienangeboten (= Medienanalyse) wird auf die inhaltsanalytische Methode zurückgegriffen, bei der die Medienbotschaft in Analyseeinheiten zerlegt und jede Analyseeinheit vorgegebenen Kategorien zugeordnet wird. Ausmaß und Art der Mediennutzung werden zumeist mit Hilfe der Telemetrie erfaßt, wobei dieses Verfahren jedoch keine Anhaltspunkte dazu liefert, auf welche Weise der Nutzer die dargebotenen Informationen verarbeitet und welche kognitiven und emotionalen Wirkungen deren Verarbeitung auslöst. Mit Hilfe der Videoaufzeichnung der Zuschaueraktivität beim Fernsehen (= Verhaltensbeobachtung) kann festgestellt werden, in welchem Ausmaß sich die Zuschauer dem Fernsehgerät zuwenden bzw. wie häufig sie beim Fernsehen Nebentätigkeiten nachgehen. Durch die Eyes-on-screen-Methode kann demonstriert werden, daß sich Zuschauer nur während eines Teils der vor dem Fernsehgerät verbrachten Zeit dem Programm zuwenden und daß die Kontaktquote (= Verhältnis der Zuwendungsdauer zu der vor dem Bildschirm verbrachten Zeit) bei spannenden Spielfilmen und beim Wetterbericht am höchsten ist. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein Zuschauer weiterhin dem Programm folgt, um so größer, je länger er sich diesem Programm bereits zugewandt hat (= Aufmerksamkeitsträgheit). Selbst bei einer eindeutigen Zuwendung zum Bildschirm kann aufgrund der Beschaffenheit der Sinnesorgane und der Besonderheiten des Wahrnehmungssystems die Informationsaufnahme nur selektiv erfolgen. Aus diesem Grund bietet es sich an, zur detaillierten Beschreibung der Aufnahme visuell dargebotener Informationen die Registrierung von Blickbewegungen einzusetzen. Mit Hilfe dieses Verfahrens können Zuschauer danach unterschieden werden, ob sie sich mit geringer oder aber großer Aufmerksamkeit spezifischen Reizarten im medialen Angebot (z.B. symbolischen Darstellungen von Produktmarken) zuwenden. Dabei hat sich gezeigt, daß aufgrund interindividuell unterschiedlicher reizbezogener Aufmerksamkeitswerte etwa die Erinnerungsleistung für die auf dem Bildschirm dargebotenen Informationen (z.B. die Produktmarken) vorhergesagt werden kann.
Weiterhin kommen die Befragungsverfahren der empirischen Psychologie (Interview, Fragebogen, projektive und psychometrische Tests) zum Einsatz, mit denen rezeptionsrelevante Faktoren wie Nutzungsmotive oder Programmpräferenzen, aber auch Persönlichkeitseigenschaften (wie z.B. Sensationssuche oder Kognitionsbedürfnis) gemessen werden. Häufig gehen mit der Filmrezeption begleitende emotionale Wirkungen einher; dabei macht eine umfassende und zutreffende Beurteilung von Stimmungen und Emotionen einen Zugang auf mehreren Ebenen (subjektives Empfinden, Verhalten, Physiologie) erforderlich (Emotion). In medienpsychologischen Rezeptionsstudien kommen neben Fragebögen zur Erfassung der erlebten subjektiven Empfindungen oftmals auch Meßgeräte für physiologische Erregungsindikatoren (Hautleitfähigkeit, Herzfrequenz, Blutdruck) zum Einsatz. Mit der Nutzung audiovisueller Darbietungsmedien ist die Zuwendung zu einem fortwährend veränderlichen Reizangebot (= dynamische Stimuli) verbunden; aus diesem Grund gewinnen in neuerer Zeit Verfahren zur kontinuierlichen Reizbeschreibung und Reaktionserfassung an Bedeutung. Zur Beurteilung des Verlaufs von Film- und Fernsehwirkungen müssen kognitive und emotionale Reaktionen in kurzen Zeitabständen (= hohe Abtastrate) gemessen werden und durch die Filmhandlung ausgelöste Reaktionen sollten mit einer nur kurzen Verzögerung angezeigt werden. An die Stelle der Befragung kann hier die fortwährende Einschätzung der subjektiven Empfindung der Zuschauer mit Hilfe eines Reglers oder Joysticks treten; dieses Verfahren wird auch zur kontinuierlichen Programmbewertung (z.B. gut-schlecht) eingesetzt. Eine weitere Methode zur Bewertung des Emotionsverlaufs ist die Aufzeichnung der Gesichtsmimik während der Filmrezeption (Mimik). Mit Hilfe eines geeigneten Analysesystems können Hinweise zu den zu spezifischen Zeitpunkten der Darbietung erlebten Emotionen gewonnen werden.
Theoretische Ansätze
Bedeutsame (ausgewählte) medienpsychologische Forschungsfelder sind ideologische Medienwirkungen und Effekte von Nachrichten (z.B. auf das Behalten), Motive und Aktivitäten der Mediennutzer (etwa bei der Programmwahl), Medieneinflüsse auf Sozialisation und Bildung, Wirkungen von Gewalt, die emotionale Verarbeitung erregender Medienbotschaften, der Aufbau parasozialer Beziehungen zu medialen Personen oder die Besonderheiten der computervermittelten Kommunikation. Zur Erklärung der Befunde wurden unter anderem folgende theoretische Ansätze entwickelt: a) Der Wissenskluft-Hypothese zufolge beseitigt das Fernsehen nicht Wissens- und Bildungsunterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten, sondern vergrößert sie vielmehr. b) Zentrale Aussage der Agenda-Setting-Hypothese ist, daß die medial dargebotenen Themen (= Medienagenda) die Rangfolge der öffentlich diskutierten Themen (= Publikumsagenda) bestimmen. c) Gemeinsame Annahme der Kultivierungshypothesen ist, daß ein häufiger und intensiver Fernsehkonsum aufgrund der Eigenarten des Mediums (z.B. seiner Realitätsnähe) bei den Zuschauern überdauernde Veränderungen im Bereich der kognitiven Fähigkeiten (cultivation of cognitive skills) oder der Einstellungen (cultivation of beliefs) hinterläßt. d) Innerhalb des Nutzen-und-Gratifikations-Ansatzes wird untersucht, aufgrund welcher kurzfristigen Belohnungen (= gratifications) bzw. aufgrund welchen langfristigen Nutzens (= uses) ausgewählte Medieninhalte rezipiert werden. e) Zwei bedeutsame theoretische Ansätze zur Erklärung der emotionalen Vorgänge bei der Rezeption von Filmen und Fernsehsendungen stellen die Erregungs-Transfer-Hypothese und die Stimmungs-Regulations-Theorie (mood-management) dar. f) Theorien zur Wahl von Kommunikationsmedien erklären, von welchen personalen und situativen Faktoren (insbesondere in Organisationen) die Wahl von Medien zur Individualkommunikation abhängt. Hier sind insbesondere die Media-Richness-Theorie, die Theorie sozialer Einflußprozesse und der Dual-Capacity-Ansatz hervorzuheben.
Ausblick
In der Informations- und Kommunikationsgesellschaft gewinnen die Medien sowohl im beruflichen als auch im privaten Sektor weiter an Bedeutung. Damit wird eine Intensivierung medienpsychologischer Forschungsaktivitäten einhergehen, was sich heute schon an der ansteigenden Zahl medienpsychologischer Publikationen und Vorträge bei Kongressen abzeichnet. Künftige Entwicklungen werden insbesondere die Verbesserung der Methoden sowie die Ausdehnung der Studien in den Bereich der sog. Neuen Medien (Multimedia, CD-ROM und Online-Medien) betreffen. Es ist zu erwarten, daß verlaufsanalytische Verfahren zur vielkanaligen Beschreibung der Dynamik von Film- und Fernsehwirkungen leistungsfähiger werden und daß es einen verstärkten Einsatz hirndiagnostischer Verfahren zur Bestimmung spezifischer neuronaler Aktivitäten bei der Mediennutzung geben wird. Zur Lösung der mit der rasanten Technologieentwicklung verbundenen Problemstellungen wird es intensivierte Kooperationen der Medienpsychologie mit Nachbargebieten wie der Software-Ergonomie (bei Fragen der Gestaltung der Oberfläche elektronischer Medien) oder der Pädagogischen Psychologie (bei der Analyse des mediengestützten Fernlernens) geben.
Literatur
Bryant, J. & Zillmann, D. (Eds.), Responding to the screen. Reception and reaction processes. Hillsdale, N. J.: Erlbaum.
Höflich, J. (1996). Technisch vermittelte Individualkommunikation. Grundlagen, organisatorische Kommunikation, Konstitution "elektronischer Gemeinschaften". Opladen: Westdeutscher Verlag.
Schenk, M. (1987). Medienwirkungsforschung. Tübingen: Mohr.
Winterhoff-Spurk, P. (1986). Fernsehen. Psychologische Befunde zur Medienwirkung. Bern: Huber.
Winterhoff-Spurk, P. (1999). Medienpsychologie. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.
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