der Drang in die Ferne, ein Gegenstück zum Heimweh (vgl. Nostalgie). Es gibt sowohl Menschen, die eng an die Heimat gebunden bleiben, weil sie sich nur in ihr sicher fühlen, als auch andere, die aus der Beengung in der Welt ihrer Kindheit ausbrechen müssen, um zu sich selbst zu finden. Die Wanderlust läßt sich also nicht mit dem Instinkt vergleichen, der etwa die Zugvögel zu ihren regelmäßigen Wanderungen nötigt. Sie ergibt sich vielmehr aus der individuellen Veranlagung und Erfahrung. Ihre Beziehung zur Lebensgeschichte zeigt sich auch darin, daß sie besonders häufig in der Pubertät und Adoleszenz auftritt, also in der Periode, die zwischen der Abhängigkeit des Kindes von den Eltern und der Ablösung aus der Familie liegt. Der Drang zur Freiheit und Selbständigkeit hinter der Wanderlust entsteht nicht immer infolge unerträglicher Verhältnisse, sondern kann auch das Zeichen besonders inniger Bindungen sein, die sich eben nur plötzlich und radikal lösen lassen, wenn die Zeit zur selbständigen Bewährung in Freiheit gekommen ist. Das deutsche Wort »Wanderlust« wurde als Fremdwort in andere Sprachen übernommen, ein Zeichen dafür, daß diese Neigung im deutschen Volk besonders häufig ist. Das wiederum hat mit der Geschichte zu tun, mit den Beengungen in den einstigen deutschen Kleinstaaten zum Beispiel. Die Wanderlust der deutschen Romantik oder des »Wandervogels« war nicht eigentlich eine Sehnsucht nach Abenteuern, sondern eher eine Flucht aus Bürgerlichkeit und städtischer Zivilisation, ein Versuch zur Rücckehr in die Natur und in einfachste menschliche Verhältnisse. Der »Wandervogel« war zugleich eine Art Männerbund, bot also eine andere Art der Geborgenheit als in der Familie. Viele Wanderer aber suchen einen ganz eigenen Weg, und alle Beziehungen, die sie auf ihrer Reise eingehen, bleiben vorübergehend. Das gilt geradeso für den Land oder Stadtstreicher, dessen Verhalten schon als asozial gilt, wie für den Globetrotter, der sich in Kleidung und täglichen Sitten bis zur Unauffälligkeit anpaßt, und auch für den erdkundlichen Forscher, der seine Wanderlust in eine gesellschaftlich anerkannte Leistung einbringt. Es gibt sogar unverzichtbare Berufe, die Wanderlust voraussetzen, Seeleute, Artisten und Schausteller (vgl. Gaukler). In einigen davon ist der ständige Ortswechsel eine familiäre Tradition. Bei Nomaden endlich ist sie eine Voraussetzung ihrer besonderern Kultur und Gesellschaftsordnung. So reicht die Wanderlust von seelischer und sozialer Störung (Vagabondage) über altersbedingte Phänomene oder romantische Ideale bis zur Einordnung in eine Gesellschaft. Sie kann als Beispiel für viele psychisch-soziale Erscheinungen dienen, deren Wert von dem jeweiligen Zusammenhang abhängt.
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