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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Vorurteile

Autor
Autor:
Werner Eberlein





Definition

In der sozialpsychologischen Literatur bezeichnet man als Vorurteil eine negative oder positive Haltung gegenüber Personen, Gruppen, Objekten oder Sachverhalten, die weniger auf direkter Erfahrung als vielmehr auf Generalisierung beruht. Die Mehrzahl bestehender Vorurteilsdefinitionen konzentriert sich auf Vorurteile negativen Inhalts, da diese eher als positive Vorurteile schädigende Wirkung nach sich ziehen. In der klassischen Formulierung von Allport (1954; 1971) werden Vorurteile definiert als “ablehnende oder feindselige Haltung gegen eine Person, die zu einer Gruppe gehört, einfach deswegen, weil sie zu dieser Gruppe gehört und deswegen dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man dieser Gruppe zuschreibt.” Die zahlreichen Definitionen orientieren sich mehrheitlich an Einstellungsdefinitionen (Einstellung). Dabei werden Vorurteile, zumindest in älteren Ansätzen, der affektiven Komponente zugerechnet oder mit affektiven und kognitiven Anteilen versehen, während der verwandte Begriff des Stereotyps mit der kognitiven Komponente einer Einstellung gleichgesetzt wird.

Bereits in frühen Gesamtdarstellungen zum Vorurteilsbegriff stellt sich jedoch die Problematik der konzeptuellen Abgrenzung beider Begriffe, da hier eine Reihe von Definitionen angeführt werden, die entweder explizit auf das Konzept des Stereotyps Bezug nehmen oder als wesentliche Definitionsmerkmale Kategorisierungsprozesse verwenden, die als charakteristisch für spätere Stereotypendefinitionen betrachtet werden können. Bis zum Beginn der 70er Jahre des 20. Jh. war dennoch das Vorurteilskonzept das bei weitem prominentere. Während im Bereich der Stereotypenforschung erst 1956 das erste Sammelreferat vorgelegt wurde, gefolgt von weiteren Überblicksartikeln, wurden in der Vorurteilsforschung bereits 1954 (z.B. von Allport) in Form umfangreicher Gesamtdarstellungen aktuelle Forschungsberichte verfaßt. Daß sich die Vorurteilsforschung vor allem in der Zeit des zweiten Weltkrieges und in den Jahrzehnten danach zu einem der bedeutendsten Teilgebiete der Sozialpsychologie entwickelte, liegt vor allem in ihrem breitgestreuten Methodeninventar, das sie aus der Einstellungsforschung bezog. Forschungsfördernd wirkten zudem das politische Interesse an den Ursachen antidemokratischer Tendenzen und die Konfliktsteuerung der Auswirkungen ethnischer Vorurteile in den USA. Die eher stiefmütterliche Behandlung von Stereotypen innerhalb der Einstellungsforschung änderte sich im Zuge der kognitiven Wende in der Sozialpsychologie mit Beginn der 70er Jahre. Hieraus resultierten für die Vorurteilsforschung nicht unerhebliche Veränderungen, die sich vor allem in der Berücksichtigung kognitiver Mechanismen der Informationsverarbeitung sowie der sozialen Wahrnehmung zeigten.



Theorien und Konzepte

1) Psychodynamische Ansätze, die die Vorurteilsforschung in den 50er Jahren dominierten (Autoritäte Persönlichkeit), sehen die Ursachen von Vorurteilen im Wesen eines Menschen begründet und machen hierfür eine bestimmte Charakterstruktur verantwortlich, die in einer eher ängstlichen und unsicheren Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. Als Ursache für die Herausbildung einer vorurteilshaften Persönlichkeit werden elterliche Erziehungspraktiken angeführt.

2) In den 60er und 70er Jahren verlagerte sich das Forschungsinteresse von individuellen Determinanten zur Erklärung von Vorurteilen hin auf die Betrachtung sozialer und kultureller Einflußfaktoren. Innerhalb dieser soziokulturellen Betrachtungsweise läßt sich die strukturalistische Perspektive von der Konfliktperspektive abgrenzen. Während in den 60er Jahren der Einfluß sozialer Normen auf die Bildung und Aufrechterhaltung von Vorurteilen betont wurde, konzentrierte sich das Forschungsinteresse der 70er Jahre auf Intergruppendynamik und -konflikt (Theorie des realistischen Gruppenkonflikts.

3) Kognitive Ansätze stellen Kategorisierungsprozesse in den Mittelpunkt. Inzwischen existieren zahlreiche Belege, daß die mit Kategorisierung verbundene Tendenz, Ähnlichkeiten innerhalb (Assimilation) und Unterschiede zwischen Kategorien (Differenzierung) zu betonen, häufig Vorurteile und diskriminierendes Verhalten nach sich zieht. Danach ist bloße Kategorisierung von Personen in “ingroup” und “outgroup” (minimales Gruppenparadigma) hinreichende Grundlage für “ingroup”-Favorisierung und “outgroup”-Diskriminierung. Auf diesem Grundgedanken aufbauend wurde die Theorie der Sozialen Identität entwickelt.

4) Während die zuvor genannten Ansätze offene und eklatante Vorurteile zum Gegenstand haben, wurde 1981 erstmals mit der Theorie des symbolischen Rassismus auf die Existenz verdeckter Vorurteile aufmerksam gemacht. Durch den, aus den egalitären Wertvorstellungen der Gesellschaft erwachsenen, Druck in Richtung Freiheit und Gleichheit wurden die offene Äußerung von Vorurteilen sowie die häufig daraus resultierende Diskriminierung zunehmend unterdrückt.

5) In der Theorie des modernen Rassismus wurde dieser subtileren Diskriminierung ethnischer Minoritäten Rechnung getragen. In neueren Arbeiten (e.g. Tougas et al., 1995) wurde die Theorie des modernen Rassismus als Theorie des modernen Sexismus auf die Problematik der Diskriminierung von Frauen adaptiert.



Empirische Erfassung von Vorurteilen

Zur Messung von Vorurteilen bedient sich die Vorurteilsforschung des Methodeninventars der Einstellungsforschung. Hierzu zählen Interviews, Fragebögen und psychometrische Skalen, die die unterschiedlichsten Vorurteile zum Gegenstand haben (z.B. gegenüber Ausländern, Homosexuellen) und in verschiedenen Handbüchern dokumentiert sind. Neben diesen immer noch vorzugsweise sowohl in der Forschung als auch in repräsentativen Umfragen eingesetzten Verfahren werden zur Erfassung von Vorurteilen auch nicht-reaktive Verfahren verwendet, bei denen sich Personen nicht bewußt sind, daß ihr Verhalten Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen ist, so z.B. mit Hilfe der Lost-letter-Technik. Bei der Erfassung physiologischer Reaktionen werden bestimmte physiologische Maße (z.B. die psychogalvanische Hautreaktion) als Indikator für Vorurteile gewählt. Hierbei ergeben sich jedoch Interpretationsprobleme bei der Auswertung der physiologischen Daten, da sich zwar die Intensität, nicht aber die Richtung (Ablehnungen vs. Zustimmung) der Reaktion feststellen läßt. Der Vorteil nicht-reaktiver Verfahren besteht in dem Versuch, sozial erwünschtes Antwortverhalten, das aufgrund der teilweise hohen Itemtranzparenz verwendeter Fragebögen gegeben ist, zu kontrollieren. Demgegenüber stehen jedoch erhöhte zeitliche und finanzielle Aufwendungen sowie die minimale Kontrollierbarkeit der Situation, die nicht-reaktive Verfahren seltener zum Einsatz kommen lassen.



Vorurteile und Diskriminierung

Zwar wird man Vorurteile ohne Diskriminierung und – umgekehrt – Diskriminierung ohne Vorurteile finden, und man wird ebenfalls davon ausgehen können, daß zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht, dennoch ist der “Normalfall” dieser Beziehung der, daß Vorurteile als Determinanten diskriminierenden Verhaltens betrachtet werden können. Diskriminierendes Verhalten ist eine Sammelbezeichnung für unangemessenes und ungerechtfertigtes Verhalten gegenüber Personen oder Gruppen ausschließlich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe. Die Ungleichbehandlung wird dabei nicht nur von Personen (individuelle Diskriminierung), sondern auch von Institutionen (institutionelle Diskriminierung) ausgeübt. Die Praktiken der Diskriminierung reichen von Beschimpfungen und Beleidigungen bis hin zur Anwendung körperlicher Gewalt, zur Boykottierung von Geschäften, Ausgangssperren, Beschneidung von Rechten in der Ehe, ungleiche Bezahlung für gleiche Arbeit etc. (Fiske, 1998). Der empirisch ermittelte Zusammenhang zwischen Vorurteilen und diskriminierendem Verhalten ist jedoch eher bescheiden und liegt etwa bei einer mittleren Korrelation von r =.29, wobei die Höhe dieses Zusammenhangs in Abhängigkeit vom untersuchten Verhaltensbereich und verwendeten Meßverfahren deutlich variiert.



Abbau von Vorurteilen

Auch wenn Vorurteile im individuellen Lebenslauf schon relativ früh erworben werden, so sind nach Aboud (1988) ethnische Vorurteile bereits im Alter von 3-4 Jahren nachweisbar, und obwohl es auch nie absolut “vorurteilsfreie” Personen gibt, ist der Katalog der angebotenen Techniken und Strategien zur Reduktion von Vorurteilen vielfältig und reichhaltig. Die Erfolgsquote hängt jedoch in nicht zu unterschätzendem Maße von der Kooperationswilligkeit derjenigen ab, deren Vorurteile reduziert werden sollen. Dies trifft auch auf eine der wirkungsvollsten Techniken zu, das Rollenspiel, bei dem die beteiligten Personen durch eine Art Perspektivenübernahme lernen, Erfahrungen und Gefühle anderer möglichst realistisch nachzuvollziehen. Im Vergleich zu zeitintensiven Unterrichts- und Informationsangeboten sind Rollenspiele jedoch nicht so deutlich überlegen, wie häufig angenommen wird. Die vielbeschworene Wirkung von Kontakt reduziert sich nach den bisher bekannten Untersuchungen (Pettigrew, 1998) auf Bedingungen des persönlichen Kontakts zwischen Personen gleichen Status, die an Kooperation interessiert sind und deren Kontaktaufnahme soziale Unterstützung erfährt. In der Regel nicht zu trennen ist die Wirkung von Kontakt von einem anderen Mechanismus, dem sog. mere-exposure-Effekt, der sich in der Weise auswirkt, daß “Objekte”, die wiederholt dargeboten werden, mit zunehmender Darbietungshäufigkeit positiver beurteilt werden. Auch hier gilt allerdings eine nicht unwichtige Spezifizierung dieses Effektes, wonach es generell zu einer Polarisierung bereits bestehender Urteile kommt, d.h., daß anfangs positive bzw. negative Einschätzungen durch wiederholte Darbietung zunehmend positiver bzw. negativer beurteilt werden. Zumindest experimentell belegt sind Strategien der Vorurteilsänderung durch Re-Kategorisierung, De-Kategorisierung und Sub-Kategorisierung. Bei der Re-Kategorisierung wird versucht, die bestehende soziale Kategorisierung durch eine andere zu ersetzen, die globaler ist, so daß die bestehenden Gruppengrenzen aufgehoben werden. Im Falle der De-Kategorisierung sollen die bestehenden Kategoriengrenzen ebenfalls aufgehoben werden, jedoch in der Weise, daß anstelle der kategorialen Zugehörigkeit die Individualität des jeweils einzelnen herausgestellt wird. Bei der Sub-Kategorisierung werden die unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten besonders herausgestellt, um damit jeder Gruppe ihre positive soziale Identität zu erhalten.

Neben generellen Sympathiekundgebungen, wie z.B. Ausländerwochen oder multikulturelle Veranstaltungen, sind politische, juristische oder soziopolitische Maßnahmen, wie z.B. Erleichterung von Einreisebedingungen und Heiratserlaubnissen, Gewährung des aktiven und passiven Wahlrechts, Schulungen von Personal des Öffentlichen Dienstes im Umgang mit ausländischen Mitbürgern etc. zwar noch keine Garantie für die Reduktion von Vorurteilen und Diskriminierungen, sie schaffen jedoch Rahmenbedingungen, die zur Verbesserung des gesamtgesellschaftlichen “Klimas” im Umgang mit Minoritäten und “Fremden” beitragen.

Literatur

Aboud, F. (1988). Children and prejudice. Oxford, UK: Blackwell

Allport, G.W. (1971). Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Übersetzung von The nature of prejudice. Reading, MA: Addison-Wesley (1954).

Fiske, S. (1998). Stereotyping, prejudice, and discrimination. In D.T. Gilbert, S.T. Fiske & G. Lindzey (Eds.) The Handbook of Social Psychology (4th ed., Vol. II) (pp. 357-411). Boston, MA: McGraw-Hill.

Pettigrew, T.F. (1998). Intergroup contact theory. Annual Review of Psychology, 49, 65-85.

Tougas, F., Brown, R., Beaton, A.M. & Joly, S. (1995). Neosexism: Plus ca change, plus c’est pareil. Personality and Social Psychology Bulletin, 21, 842-849.


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