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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Wehrpsychologie

Autor
Autor:
Manuela Bartheim-Rixen





Begriff und Geschichte

Wehrpsychologie, ein Teilgebiet der Angewandten Psychologie, ist die Anwendung der Arbeits- und Organisations- sowie der Klinischen Psychologie in militärischen Organisationen. Sie umfaßt psychologische Diagnostik und Prognostik, Beratung und Intervention, Unterricht und Training, Methodenentwicklung und Evaluation.

Eine wissenschaftlich fundierte Wehrpsychologie hat ihre Wurzeln im Ersten Weltkrieg. Das Instrumentarium der Wehrpsychologie reichte vom ersten Intelligenz-Test der Psychologiegeschichte (“Army-Alpha”, ab 1915 in den amerikanischen Streitkräften) über eine differenzierte Apparate-Technik zur Prognose der Eignung zum Kraftfahrer, Funker, Piloten (Deutsche Heerespsychophysik, 1914–1918) bis zum Vorläufer moderner Assessment-Center Verfahren im Rahmen der Offiziersauswahl der Deutschen Reichswehr und Wehrmacht (ab 1927).

Die deutsche Wehrmachtspsychologie beschäftigte ca. 150 Psychologen in sog. Prüfstellen von Heer, Luftwaffe und Marine. Sie wurde 1942 durch “Führerbefehl und Verfügung des Oberkommandos der Wehrmacht” aufgelöst (von Renthe-Fink, 1985).

Mit Aufbau der Bundeswehr wurde 1956 auch deren Psychologischer Dienst (PsychDstBw) konzipiert und schrittweise realisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Wehrpsychologie in den Armeen der westlichen Welt vergleichsweise ähnlich entwickelt; die Nutzung von Psychologie in den ehemaligen Ostblockarmeen gleicht sich seit 1990 kontinuierlich an deren Vorbild an. Aufgabenstruktur, organisatorischer Aufbau und Personalstruktur der deutschen Wehrpsychologie hat ihre Entsprechungen in den wehrpsychologischen Strukturen anderer moderner Armeen. Aus diesem Grund beschränken wir uns im folgenden auf den PsychDstBw.



Organisatorischer und personeller Rahmen des PsychDstBw

Die knapp 450 Dienstposten des PsychDstBw sind Teil der militärischen Organisation und der Wehrverwaltung (Abb 1.). Die wehrpsychologischen Einsatzorte orientieren sich – wie die gesamte Wehrverwaltung – am Grundsatz der Nähe zum wehrpflichtigen Bürger einerseits und zur Truppe andererseits. Folgerichtig finden sie sich flächendeckend in allen Bundesländern.

Alle Mitarbeiter des PsychDstBw haben einen zivilen Status. Dies gilt für die ca. 160 Psychologinnen und Psychologen wie für das fachliche Assistenzpersonal (PsychTechnAss; ca. 260). Der Frauenanteil beträgt bei den Psychologen 30%, bei den PsychTechnAss deutlich über 50%. Ein großer Teil der Männer hat militärische Vorerfahrungen, fast immer erworben durch Ableistung des Grundwehrdienstes. Die meisten der Psychologen haben den Rang eines Reserveoffiziers.

In Ermangelung einer gesetzlich geregelten Qualifikation zum PsychTechnAss bildet der PsychDstBw seine Fachkräfte selbst aus. Erst eine erfolgreich durchlaufene verwaltungsinterne Ausbildung von 30 Monaten berechtigt zu einer Tätigkeit etwa als Testleiter in einer personalpsychologischen Prüfstation oder in einem Bundeswehrkrankenhaus.

Für Wehrpsychologen ist die formale Einstellungsvoraussetzung das Diplom in Psychologie. Für manche Tätigkeiten sind auch Zusatzqualifikationen, z.B. die Approbation als Psychologischer Psychotherapeut, notwendig. Die “Philosophie” der Personalentwicklung sieht für die ersten Jahren einen häufigeren Verwendungswechsel vor. Die einzelnen Stationen beinhalten praktische psychodiagnostische Tätigkeiten genauso wie den Erfahrungserwerb in wehrpsychologischem Qualitätsmanagement, Truppenpsychologie und im “Psychologie-Management”.



Berufliches Selbstverständnis

Wehrpsychologie unterliegt dem klassischen Dilemma der A & O-Psychologie: Sie steht im Spannungsfeld der Interessen von Individuum, Organisation und Gesellschaft. Im Zusammenhang mit der Allgemeinen Wehrpflicht ist die Wehrpsychologie zwar Teil des staatlichen Verwaltungshandelns, in ihrem Selbstverständnis dient sie aber dem Ausgleich der Interessen zwischen dem wehrpflichtigen Bürger und der militärischen Organisation. Gleiches gilt für Freiwilligen- oder Beamtenbewerber. Der große Umfang personalpsychologischer Aufgaben des PsychDstBw (pro Jahr knapp 300.000 psychologische Eignungsuntersuchungen) macht es notwendig, die fachliche und die wissenschaftliche Arbeit der personalpsychologisch tätigen Wehrpsychologen an allgemein anerkannten Standards auszurichten. Regelmäßig sind dabei zwei Aspekte zu beachten: Der Bundeswehr gegenüber besteht die Verpflichtung zu einer gewissenhaften und dem Stand der psychologischen Wissenschaft entsprechenden Fachexpertise. Aus diesem Grund ist die Anwendung wehrpsychologischer Methoden verbindlich an ein kontinuierlich begleitendes Qualitätsma-nagement gebunden. Die personalpsychologische Tätigkeit berührt besonders schutzbedürftige Persönlichkeitsbereiche der Probanden. Deswegen sind die Psychologen in der Bundeswehr besonders verpflichtet, die Würde ihrer Klientel, deren Unversehrtheit und informationelle Selbstbestimmung zu achten.-

Im PsychDstBw dürfen nur solche Instrumente und Verfahren eingesetzt werden, die für den Probanden fair, zumutbar, unschädlich und transparent sind. Jeder Proband hat ein Recht auf die Rückmeldung seiner Ergebnisse. Kriterien für die Qualität der psychologischen Eignungsprognose sind gleichermaßen der Erfolg des Probanden in der empfohlenen Tätigkeit wie seine Arbeitszufriedenheit. Die im PsychDstBw erhobenen Daten unterliegen grundsätzlich der Schweigepflicht nach §203 StGB und dem Datengeheimnis nach §5 BDSG. Die Berufsfachlichen Grundsätze des PsychDstBw verpflichten alle Wehrpsychologen auf konsequente Beachtung der “Berufsordnung Deutscher Psychologen” (BDP).



Aufgabenfelder

Gesteuert vom wehrpsychologischen Fachreferat im Verteidigungs-ministerium ist der PsychDstBw tätig in den in der Tab. aufgelisteten Aufgabenbereichen und Aufgabenfeldern.

Der größte Anteil der wehrpsychologischen Mitarbeiter arbeitet im traditionellen Bereich der Personalgewinnung und -entwicklung . Die psychologische Eignungsuntersuchung und Eignungsfeststellung ermöglicht, daß die zur Ableistung des Grundwehrdienstes heranstehenden jungen Männer eine ihrer Eignung und Neigung entsprechende militärische Verwendung finden. Ca. 250.000 junge Wehrpflichtige werden derzeit an 83 Kreiswehrersatzämtern dieser Prüfung – im Kern einer computer-assistiert ablaufenden Testbatterie (Computer-Assistiertes Testen) – unterzogen. Erheblich aufwendiger ist die Eignungsfeststellung für Freiwilligenbewerber bei der Offiziersbewerber-Prüfzentrale und den fünf Zentren für Nachwuchsgewinnung. Hier werden die Testverfahren obligatorisch durch Assessment-Center-Verfahren ergänzt. Zeitlich und methodisch besonders aufwendig ist die Eignungsfeststellung von Bewerbern für Spezial-Verwendungen, seien es zukünftige Flugzeugführer, Radarkontroll- und Flugsicherungspersonal (Flugmedizinisches Institut der Luftwaffe) oder Taucher und Kampfschwimmer (Schiffahrtmedizi-nisches Institut der Marine).

Das personalpsychologische Aufgabenspektrum wird komplettiert durch Berufseignungsuntersuchungen bei ausscheidenden Soldaten sowie durch Mitwirkung bei den Einstellungs- und Aufstiegsverfahren von Mitarbeitern der Wehrverwaltung.

Truppenpsychologen bereiten Soldaten auf deren (Auslands-) Einsatz vor, sie begleiten solche Einsätze, sie betreuen die Familien von im Einsatz befindlichen Soldaten, sie arbeiten in Krisen-Interventions-Teams. Inhaltliche Themen sind u.a. der Umgang mit einsatzbedingten Belastungen, mit Sterben, Trauer, Gefangenen- und Geiselnahme, einsatz- oder katastrophenbedingten Psychotraumata (Psychotraumatologie) oder der Erwerb “Interkultureller Kompetenz” (Interkulturelles Training) in der Zusammenarbeit mit Soldaten anderer Nationen und/oder beim Einsatz in einem anderen Kulturkreis. Da der Aufwand an truppenpsychologischer Tätigkeit von teilweise unvorhersehbaren außen- und sicherheitspolitischen Entwicklungen abhängig ist und ein Katastrophenfall überhaupt nicht kalkulierbar ist, wird der größte Teil der truppenpsychologischen Aufgaben anlaßbezogen von allen Psychologen des PsychDstBw übernommen. Jede Psychologin und jeder Psychologe übernimmt neben der Haupttätigkeit bei Bedarf eines der o.g. truppenpsychologischen Aufgabenfelder, für das sie/er besonders qualifiziert wird (Truppenpsychologie).

Klinische Psychologie leistet Beiträge zur Diagnose und Therapie von Soldaten mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen. Klinische Psychologen arbeiten mit Wehrmedizinern vor allem in den Bundeswehrkrankenhäusern zusammen.

Psychologische Ergonomie berät bei der Entwicklung und Beschaffung von Wehrmaterial mit der Zielsetzung, “das Zusammenwirken von Mensch, Maschine und Umwelt so aufeinander abzustimmen, daß eine bestmögliche Systemwirksamkeit ohne Über- oder Unterforderung des Menschen erreicht wird” (Rauch & Steege, 1995).

Wehrpsychologische Qualitätssicherung (Qualitätsmanagement, wehrpsychologisches) supervidiert und berät die in den genannten Bereichen tätigen Psychologen. Sie unterstützt die Bereitstellung geeigneter Instrumentarien und eine den Einsatz dieser Instrumentarien kontinuierlich begleitende Qualitätskontrolle.



Perspektiven

Die neuen Aufgaben der Bundeswehr haben bereits zu erheblichen Veränderungen im PsychDstBw geführt. Dieser Veränderungsprozeß wird weitergehen. Zwar werden auch in Zukunft die meisten Wehrpsychologen mit den traditionellen personalpsychologischen Selektions- und Plazierungsfragestellungen befaßt sein. Die Tätigkeitssegmente Truppenpsychologie und psychologische Qualitätssicherung werden jedoch ihren “Marktanteil” kräftig ausbauen. Das Anforderungsprofil für Wehrpsychologen wird sich erheblich erweitern. Außer dem gewohnten Spektrum von A & O-Kompetenz (hier insbesondere Methodensicherheit, Gesprächsführungstechniken, Kompetenz in Beratungs- und Interventionstechniken) wird zukünftig eine Reihe zusätzlicher Qualifikationen bedeutsam. Auszugsweise sind dies: englische Sprachkompetenz, körperliche Fitneß, eine erhebliche Streß- und Frustrationstoleranz, Kompetenz zur Selbstdarstellung (Soziale Kompetenz), militärische Basiskompetenz, Führungskompetenz (Führung), soziale (familiäre) Stabilität, die Fähigkeit, Unbestimmtheit und Unstrukturiertheit zu ertragen, Flexibilität, Kreativität, Einfühlung.

Die zukünftige Personalpsychologie in der Bundeswehr steht unter dem Zwang, erhebliche qualitative Verbesserungen mit geringerem Personaleinsatz realisieren zu müssen. Die “Instrumente” zur Erreichung dieser Ziele sind

– die konsequente Nutzung des Computers,

– die Einführung sequentieller Prüfstrategien und

– psychologischer Expertensysteme,

– die Erweiterung klassischer Testkonstrukte und

– der Einsatz adaptiver Testverfahren.

Computer-Assistiertes-Testen (CAT) eröffnet verfahrenstechnische und organisatorische Möglichkeiten des Prüfablaufs, welche die Individualität des Testanden erheblich besser berücksichtigen als die traditionelle Testanwendung. In Kürze wird im PsychDstBw ausschließlich computerassistiert getestet werden (Rauch, Weber & Wildgrube, 1993).

Sequentielle Diagnosestrategien sind für Gruppen erst mit Hilfe von CAT möglich. Solche mehrstufigen Strategien haben große Vorteile: Sie sind (zeit-) ökonomischer, sie passen sich an den individuellen Probanden an, sie verhindern überflüssige Diagnostik dort, wo schon relativ früh im Diagnoseprozeß klar wird, daß der Proband für eine in Aussicht genommene Tätigkeit oder Ausbildung chancenlos ist.

Computerunterstützte Expertensysteme in der Personalpsychologie setzen die Sammlung von Expertenwissen und dessen Umsetzung in einen Satz eindeutiger und fachlich abgesicherter diagnostischer Regeln voraus. Damit wird die Generierung von diagnostischen Vorschlägen ermöglicht und der Psychologe erheblich entlastet. Erste Erfahrungen im PsychDstBw mit solchen Systemen sind außerordentlich positiv.

Die flächendeckende Nutzung leistungsfähiger Mikroelektronik macht aber auch völlig neue Teststrategien und die Operationalisierung neuartiger Testkonstrukte möglich. Im PsychDstBw ist eine Reihe solcher Verfahren bereits im Einsatz bzw. steht kurz vor der Einsatzreife. Beispielhaft sind dies: ein Gerät, das simulationsgestützt wichtige fliegerische Eignungsdimensionen feststellt (Instrument Coordination Analyzer), oder ein Gerät, das Eingangsdiagnostik für Hubschrauberpiloten mit Lerndefizit-/Lernfortschrittskontrollen verbindet und darüber hinaus sogar ein “Part-Task-Training” unterstützt (Fliegerpsychologisches System Hubschrauber).

Eine erhebliche Verbesserung der Individualisierung und der Ökonomisierung von Prüfverfahren ist durch den Einsatz adaptiver Verfahren möglich. Bei solchen Verfahren bearbeitet jeder Testand eine auf seine Leistungsfähigkeit zugeschnittene Zusammenstellung von Testaufgaben. Die gerade für das wehrpsychologische Einsatzspektrum bei traditionellen Testverfahren charakteristische Über- bzw. Unterforderung von Teilen der Klientel wird durch die Verwendung solcher Verfahren vermieden. Adaptive Tests liefern nach den Erfahrungen im PsychDstBw sehr präzise Ergebnisse in außerordentlich kurzer Zeit (Hornke, 1995).

Literatur

Hornke, L.F. (1995). Stand der Technik des Computergestützten Testens (CAT). Untersuchungen des PsychDstBw, 28 bis 30, Bd. 2, 37-182

Rauch, M. & Steege, F.W. (1995). Der PsychDstBw. In L. von Rosenstiel, S. M. Hockel & W. Molt (Hrsg.), Handbuch der Angewandten Psychologie. Landsberg, Lech: Ecomed-Verlag.

Rauch, M., Weber, W. & Wildgrube, W. (1993). Computergestützte Testdiagnostik im PsychDstBw. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 37, 142-145.

Von Renthe-Fink, L. (1985). Von der Heerespsychotechnik zur Wehrmachtspsychologie. Deutsche Wehrmachtspsychologie 1914-1945. München: Verlag für Wehrwissenschaften.

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