Verbreitung
Computer sind heute im privaten und beruflichen Bereich weit verbreitet, und zunehmend werden sie auch an Computernetzwerke angeschlossen, so daß ein Datenaustausch zwischen den einzelnen Computern möglich ist. Computernetzwerke bieten den Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, Informationen und Dienstleistungen abzurufen und für andere bereitzustellen, zu zweit oder in Gruppen miteinander zu kommunizieren oder ein Massenpublikum anzusprechen. Der netzbasierte Austausch ist bislang noch stark textzentriert, allerdings zeichnet sich ein Trend in Richtung Multicodierung (z.B. Text mit Bildern) und Multimodalität (z.B. Text mit audiovisueller Einspielung) ab.
Grundbegriffe zur Vernetzung
Das wichtigste und größte internationale Computernetzwerk ist das Internet mit mehreren Hundert Millionen Nutzerinnen und Nutzern weltweit. Computernetzwerke lassen sich nach diversen Kriterien kategorisieren, etwa nach ihrer Größe (z.B. Local Area Network versus Wide Area Network), nach dem verwendeten Protokoll (z.B. TCP/IP-Network versus UUCP-Network) oder nach der organisatorischen Struktur (z.B. offenes versus proprietäres Netzwerk). Die Art des Netzwerkes bestimmt zum einen den Teilnehmerkreis, zum anderen die zur Verfügung stehenden Dienste, Anwendungen und Inhalte. So sticht das Internet dadurch heraus, daß es eben den mit Abstand größten Teilnehmerkreis aufweist und die meisten Dienste, Anwendungen und Inhalte bietet. Viele Aussagen, die heute aus psychologischer Perspektive über das Internet getroffen werden, gelten auch für andere Computernetzwerke (z.B. für proprietäre Online-Dienste wie AOL oder T-Online, für private Mailboxnetze wie FidoNet oder Z-Netz sowie für organisationsinterne Intranets). Denn die im jeweiligen Netzwerk realisierten Formen der Netznutzung ähneln sich. Um nicht einseitig das Internet hervorzuheben, sondern Computernetzwerke und ihre Dienste allgemein zu adressieren, wird deswegen auch von Online-Medien, von Netz-Medien, von Netzen, vom Cyberspace, von virtueller Realität oder von der Matrix gesprochen, wobei gerade die drei letztgenannten Bezeichnungen einen stärker futuristischen Anstrich haben. Die Kommunikations- und Medienwissenschaften subsummieren Computernetzwerke oft unter technikorientierte Sammelbezeichnungen wie Neue Medien, Neue Informations- und Kommunikationstechnologien oder Elektronische Medien.
Formen und Theorien der Netznutzung
Traditionell konzentriert sich die Medienpsychologie ebenso wie die Kommunikationswissenschaft stark auf Massenmedien (Fernsehen, Radio, Zeitung usw.) und vernachlässigt tendenziell Individualmedien (z.B. Telefon, Briefpost, Notizzettel). Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, daß die in diesen Disziplinen entwickelten Theorien medialer Kommunikation auf Computernetzwerke nur sehr bedingt anwendbar sind. Denn via Computernetzwerk lassen sich sowohl Massenkommunikation (z.B. Herausgabe einer Online-Zeitschrift) als auch Individualkommunikation (z.B. Austausch von privaten E-Mails) und darüber hinaus noch diverse Zwischenstufen und Mischformen realisieren (z.B. persönliche Homepage mit öffentlichem sowie mit passwortgeschütztem privaten Teil). Im Kontrast zu den funktional stark eingeschränkten Massen- und Individualmedien bezeichnet man die multifunktionalen Computernetzwerke, in denen alle Beteiligten gleichermaßen "senden" und "empfangen" können, auch als Hybrid-Medien.
Angesichts der Vielfalt und Heterogenität all jener sozialen und nicht-sozialen Aktivitäten, die in Computernetzwerken möglich sind, ist Netznutzung bzw. Online-Nutzung als Forschungsgegenstand schwer abgrenzbar. Hinzu kommt, daß sich im Zuge der rasanten technischen Entwicklung die aktuell möglichen und realisierten Formen der Netznutzung fortwährend verändern. Für die Theoriebildung ergibt sich daraus die Konsequenz, entweder spezifische Einzelformen der Netznutzung herauszugreifen oder nach generischen Merkmalen zu suchen, anhand derer diverse Formen der Netznutzung zusammenfassend beschrieben und anderen Formen der Mediennutzung gegenübergestellt werden können.
Theoretisch bislang am stärksten elaboriert ist die sogenannte computervermittelte Kommunikation (CvK bzw. CMC = Computer-Mediated Communication), womit in der Regel der textbasierte zwischenmenschliche Austausch in Computernetzwerken gemeint ist. E-Mails, Mailinglisten, Newsgroups und Newsboards sind verbreitete Varianten der zeitversetzten CvK, bei der alle Botschaften gespeichert bereitgehalten werden und deswegen zu selbstgewählten Zeitpunkten abrufbar sind. Demgegenüber müssen beim Chatten, der populärsten Variante der zeitgleichen CvK, die räumlich verstreuten Beteiligten zur selben Zeit aktiv sein, da die getippten Mitteilungen unmittelbar am Monitor angezeigt werden und sofortiges Reagieren verlangen. Es liegen eine Reihe theoretischer Modelle vor, die beschreiben und erklären, welche psychologischen Implikationen es hat, wenn Menschen computervermittelt miteinander kommunizieren (Döring, 1999): Das Kanalreduktions-Modell geht davon aus, daß die Beschränkung auf maschinenschriftlichen Text die Kommunikation versachlicht, entsinnlicht und damit auch entmenschlicht. Das Filter-Modell beschreibt Enthemmung, die sich sowohl in verstärkter Aggression als auch in beschleunigter Intimität ausdrücken kann, als typischen Effekt der CvK, da diese identifizierende und hierarchisierende soziale Hintergrundinformationen herausfiltert. Das Modell der rationalen Medienwahl postuliert, daß für bestimmte Kommunikationsaufgaben CvK trotz ihrer Beschränkungen optimal geeignet ist. Das Modell der sozialen Informationsverarbeitung bestreitet, daß CvK eine defizitäre Kontaktform ist und weist darauf hin, daß wir fehlende nonverbale Informationen sehr gut verbal explizieren können. Simulations- und Imaginations-Modelle betonen die kreativen und projektiven Potentiale, die mit rein textbasierter Selbstdarstellung und Personenwahrnehmung verbunden sind und die (konträr zur Kernannahme des Kanalreduktions-Modells) gerade eine verstärkte Emotionalisierung und Erotisierung bewirken. Diese und weitere CvK-Modelle akzentuieren jeweils einzelne Aspekte der CvK und stehen deswegen eher in einem Ergänzungs- als in einem Konkurrenzverhältnis.
Während die CvK-Modelle primär auf die psychosozialen Implikationen einer computerbasierten Textkommunikation abheben, ist das Triple-A-Modell (Cooper, Scherer, Boies & Gordon, 1999) ein Beispiel für ein allgemeines Modell der Netznutzung. Es benennt Access, Affordability und Anonymity als zentrale Kennzeichen von Netzaktivitäten, die (z.B. im sexuellen Bereich) von der Mehrzahl der Menschen konstruktiv zur Exploration genutzt werden, in bestimmten Fällen jedoch zur Problemeskalation führen. Daß die Auseinandersetzung mit Netznutzung ganz neue theoretische Schulen hervorbringen kann, zeigt das Beispiel des Cyberfeminismus (Old Boys Network, 1999) (Feminismus).
Netznutzung und psychologische Grundlagenfächer
Die Bedingungen, Merkmale und Konsequenzen der verschiedenen Formen der Netznutzung sind so vielfältig, daß ihre Erforschung ein interdisziplinäres Projekt darstellt, an dem die Psychologie wesentlich partizipiert (Batinic, 2000). So grundlegende sozialpsychologische Konzepte wie Identität, Sexualität, soziale Beziehung oder soziale Gruppe werden angesichts von Online-Identitäten, Cybersex, Netzbeziehungen und virtuellen Gruppen reformuliert und präzisiert. Entgegen dem nach wie vor populären Kanalreduktions-Modell zeigt sich empirisch, daß Menschen beim netzvermittelten Austausch zu zweit und in Gruppen Formen der emotionalen Nähe, Intimität und Verbundenheit entwickeln können, die in vergleichbarer Weise beim persönlichen Zusammensein (Face-to-Face) nicht auftreten. Zudem sind Netzleben (virtual life) und sogenanntes reales Leben (real life) nicht als konträre oder konkurrierende Gegenwelten zu verstehen, sondern eher als aufeinander bezogene, gleichberechtigte Wirklichkeitsbereiche. Wenn wir netzvermittelt kommunizieren, verwandeln wir uns nicht in über allen Dingen stehende virtuelle Gestalten, sondern sind weiterhin mit unseren herkömmlichen Wünschen, Ängsten und Empfindlichkeiten konfrontiert. Auch wenn wir diese in bestimmten Netzkontexten vielleicht anders darstellen und erleben als in vielen Face-to-Face-Situationen (z.B. erleichterte Offenbarung heikler Selbstaspekte, verstärktes Gefühl von Selbstsicherheit).
Dramatische Effekte sozialer Virtualisierung sind heute noch nicht beobachtbar: Erwachsene, die online gehen, suchen primär nach Informationsangeboten und Diskussionsforen zu Themen, an denen sie schon vorher Interesse hatten. Sie kontaktieren netzbasiert sehr häufig Personen aus ihrem bereits vorhandenen privaten und beruflichen Umfeld. Und wenn sie sich selbst darstellen, lassen sie andere in der Regel keineswegs im Unklaren über ihre Geschlechtszugehörigkeit, ihre Nationalität, ihren Beruf oder ihren Wohnort. Wer die Optionen der Netzkommunikation mit Negativeffekten wie Identitätsdiffusion, Orientierungslosigkeit oder Maskerade verbindet, darf also zunächst beruhigt sein. Wer allerdings auf die emanzipatorische Wirkung frei verfügbarer Identitätskonstruktionen im Netz gehofft hatte, steht ernüchtert da. Enttäuschung zieht sich etwa durch rezente feministische Beiträge zur Netzkommunikation: Dass wir im Netz darauf beharren, Frauen oder Männer zu sein und uns nicht als geschlechtsneutral oder als multigeschlechtlich präsentieren, wird oft als vertane Chance zur Überwindung hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit beklagt.
Screenshot Playground-Chat
Daß sich die Verhältnisse zwischen Geschlechtern, Generationen oder Nationen allein im Zuge individueller Netzkommunikation revolutionär und augenfällig verändern, ist freilich nicht zu erwarten. Vielmehr müssen wir auf psychologischer Ebene mit subtilen und indirekten Effekten rechnen, soziale Nutzungskontexte, individuelle Dispositionen und subjektive Bedeutungszuschreibungen einbeziehen. In Persönlichkeitspsychologie (Persönlichkeit) und Entwicklungspsychologie wird beispielsweise zu untersuchen sein, wie sich Online- und Offline-Identitätskonstruktionen sowie soziale Netzwerke bei jenen Kohorten darstellen, die eine Prä-Internet-Zeit nicht mehr erlebt haben, die routinemäßig über diverse Nicknames, Homepages und E-mail-Adressen verfügen, die beeindruckende und erste Erfahrungen mit Freundschaft, Liebe oder Sexualität online sammeln. Allgemeinpsychologisch interessiert man sich unter anderem für Prozesse der Produktion und Rezeption von Hypertexten. Biopsychologisch relevant sind Fragestellungen, die physiologische Reaktionen und deren psychologische Verarbeitung im Kontext von netzbasierten Interaktionen betreffen, die ja zuweilen explizit körperbezogen sind (z.B. beim Cybersex). Schließlich ist mit der Online-Forschung ein ganz neuer Zweig der psychologischen Methodenlehre entstanden.
Netznutzung und psychologische Anwendungsfächer
Alle drei großen psychologischen Anwendungsfächer beschäftigen sich mittlerweile verstärkt mit Netznutzung. Im Bereich der Klinischen Psychologie geht es einerseits darum, Rat- und Hilfesuchende bei der Überwindung problematischer Formen der Netznutzung (z.B. sog. Online-Sucht) zu unterstützen und andererseits die Optionen des Netzes für Beratung und Therapie auszuschöpfen. Netzbasierte Informations- und Kontaktangebote haben durch ihre Niederschwelligkeit den Vorteil, daß sie den Einstieg in traditionelle Beratungs- und Therapiesettings vorbereiten können. Eine rein netzbasierte Psychotherapie ist für bestimmte Störungsbilder, Patientengruppen und Interventionsstrategien geeignet oder sogar besonders vorteilhaft (z.B. Childress, 1999). Im Vergleich zu der äußerst erfolgreich betriebenen Online-Selbsthilfe hat professionelle Hilfe im Netz bislang aber nur eine randständige Position.
Die Praxis-Erfahrungen mit virtuellem Lehren und Lernen sind heute deutlich umfangreicher als die Erfahrungen mit virtueller Psychotherapie. Trotzdem muß für die Pädagogische Psychologie konstatiert werden, daß wissenschaftlich fundierte und praktikable Konzepte einer Virtualisierung des Lehrens und Lernens an Schulen und Hochschulen weitgehend fehlen. Ein großes strukturelles Problem besteht darin, daß die auf Präsenzunterricht zugeschnittenen Bildungseinrichtungen organisatorisch (z.B. technische Ausstattung, Personalausstattung, Studien- und Prüfungsordnungen) ein Experimentieren mit innovativen netzbasierten und lokal verteilten Lehr-Lern-Szenarien kaum zulassen. Im Bereich des Online-Lernens werden hier vermutlich private Anbieter die staatlichen Einrichtungen überholen.
Screenshot Virtuelle Hochschule
In der Arbeits- und Organisationspsychologie schließlich ist Netznutzung als Forschungsgegenstand vergleichsweise am besten etabliert, denn im Zuge der Globalisierung der Märkte wird die Entwicklung von virtuellen Unternehmen, virtuellen Arbeitsteams, Online-Dienstleistungen, diversen Formen der Telearbeit, Online-Werbung und Online-Weiterbildung stark vorangetrieben. Eine Begleitforschung ist hier aus marktwirtschaftlichen Erwägungen oft gewünscht.
Literatur
Batinic, B. (Hrsg.) (2000). Internet für Psychologen (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Childress, C. A. (1999). Interactive E-mail Journals: A Model for Providing Psychotherapeutic Interventions Using the Internet. CyberPsychology and Behavior, 2 (3), 213-221.
Cooper, A., Scherer, C. R., Boies, S. C. & Gordon, B. L. (1999). Sexuality on the Internet From Sexual Exploration to Pathological Expression. Professional Psychology: Research and Practice, 30 (2), 154-164.
Döring, N. (1999). Sozialpsychologie des Internet. Göttingen: Hogrefe.
Old Boys Network (1999). Frequently Asked Questions. [Online-Dokument, 1.12.1999] URL http://www.obn.org/
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